Politik:Lügen sind einfach

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Ein Leser macht sich Gedanken über Lügen in der Politik. In einer zunehmend komplexen und unübersichtlichen Welt ermöglichten es diese, einfache Antworten auf drängende Fragen zu geben. Und die wünschten sich viele Menschen.

Vielen Dank für den differenzierten, klugen Artikel "Zeit der Lügen" vom 2. August, einem Thema, das, sofern einem an Demokratie liegt, permanente Aufmerksamkeit verdient. Ich stimme der resümierenden Feststellung zu: "So trivial und an allen Ecken und Enden mit Händen zu greifen es heute ist, dass alle politische Praxis und Sinngebung durch Dritt-, Fremd und Außenwelten mitgeprägt wird, so eindeutig ist der Wunsch nach nationalstaatlicher Souveränität der alten Art mehr als nur eine Illusion: es ist ein Wahn." Allerdings heißt es dann, dass "der erste und wichtigste Grund, warum nationalistische Politiker zum Lügen neigen, Selbsttäuschung" sei; ich vermute eher, dass der erste und wichtigste Grund Machtgewinn und Machterhaltung sind, aber auch das widerspräche nicht dem Gesamtduktus des Artikels.

Wichtiger scheint mir die Frage, wieso derart viele und offenbar immer mehr Menschen solchen neo-nationalistischen, faschistoiden Parolen folgen wollen? Kann es sein, dass auch in der Vergangenheit viel mehr Menschen faschistoide Sichtweisen hatten, aber sich nicht trauten, dies öffentlich zu machen, und jetzt um so freudiger - und hasserfüllter - alte Hemmungen ablegen? Auch zum Nazi-Deutschland ist ja nicht die interessanteste Frage, welche Motive Hitler und Konsorten hatten, sondern, weshalb derart viele Menschen in Deutschland diesem Irren folgen wollten. Der Artikel gibt auch dazu einen Hinweis: ""Take back control". Vielleicht wächst der Wunsch bei immer mehr Menschen, Kontrolle zurück zu gewinnen, zumindest die Illusion zu haben, die überkomplexe Welt könne einfacher gemacht werden. Die Folgen der Aufklärung sind übermäßige Ausdifferenzierungen aller gesellschaftlichen Bereiche mit Hilfe von Wissenschaft und Technik und wachsende Unübersichtlichkeit. Das Internet hat diese weiter gesteigert, weil es die Gleichzeitigkeit unendlich vieler Ereignisse sichtbarer gemacht hat. Zugleich sind für die einzelne Person die Entscheidungsmöglichkeiten und die Verweise auf jeweils andere Möglichkeiten gestiegen; ich vermute, dass diese Kontingenz bei einer wachsenden Anzahl von Menschen reflexartig den Wunsch nach einfachen Lösungen induziert; nach einem, der sagt, wo es lang geht. Lügen bieten einfachere Erklärungen als differenzierte Analysen. Einer, der diesen Zusammenhang bereits vor hundert Jahren in einem großartigen Roman beschrieben hat, ist Robert Musil. Hartmut Krauß, Bielefeld

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© SZ vom 22.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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