NSU-Prozess:Die Aufarbeitung muss tiefer gehen

Von Beginn an hat Annette Ramelsberger über den NSU-Prozess berichtet. Sie fragt sich, ob der Tod von zehn Menschen die Gesellschaft überhaupt berührt hat. Eine Leserin fordert die Menschen in der Ex-DDR zur Ursachenforschung auf.

Gedenken an die Zerstörung Dresdens

Nazis, nein danke: Demonstrationsschild in Dresden.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

"432 Tage" vom 16./17. Juni:

Der Osten drückt sich davor

Abgesehen davon, wie Annette Ramelsberger beschreibt, dass der NSU-Prozess nicht zum Ende kommt, finde ich den Eingangsteil des Artikels wichtig. Was nämlich in meinem Empfinden fehlt, ist die tiefere Ursachenforschung für den latent vorhandenen Rechtsradikalismus in der Gesellschaft der DDR. Hier scheinen sich alle damals Verantwortlichen auch heute noch zu entziehen. Eltern waren nicht immer ein gutes Vorbild in der selbständigen familiären Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Versuche von Lehrern, Schüler im Sinne des Antifaschismus zu bilden, schlugen meist fehl, weil das DDR-System selbst doktrinäre Züge trug und sich junge Leute innerlich gegen die DDR-Erziehung verwahrten.

Ich bin selbst etwa derselbe Jahrgang, nämlich 1974, wie die NSU-Täter und komme aus derselben Region, in meinem Fall Naumburg (Saale). Alle Jugendlichen dieser Region sind damals in der achten Klasse nach Buchenwald gefahren und haben sich die Gedenkstätte angeschaut. Am selben Tag sind alle Schüler der Klasse bei einem Appell vor dem Buchenwald-Denkmal FDJler geworden.

Ich frage mich oft: Musste das Gedenken an Geschändete und Ermordete so mit der politischen Erziehung verquickt werden? Hat vielleicht die individuelle, auf menschlichen Erfahrungen beruhende, echte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gefehlt? Ist vielleicht bei den Jugendlichen nur Indoktrination, aber kein empathisch-menschliches Mitgefühl und echte Trauer um die Opfer von Buchenwald angekommen?

Auf der anderen Seite: Wo gab es in der DDR eine allgemeine, offene, gesellschaftliche Debatte über den Nationalsozialismus, so wie sie sich im Westen unter dem Satz "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" Bahn brach? Diesen geschichtlichen gesamtgesellschaftlichen DDR-Kontext habe ich in der Debatte über die Taten des NSU oft vermisst.

Ich erinnere mich nämlich noch genau: Kaum war die Mauer gefallen und der innere Zensurhund hatte aufgehört zu bellen, schon brach sich das Niedermachen von Ausländern Bahn. Da waren die "Fidschies" (Vietnamesen) und die "Mongos" (mittelasiatische Sowjetsoldaten), und es dauerte auch nicht lang, bis man erzählte, dass im Nachbarort in der Kneipe ein Hitlerbild hängt. Diese Gesinnung muss doch schon vorher irgendwie da gewesen sein! Und diese Historie müssen die Ostdeutschen für sich selbst aufarbeiten. Darum drücken sie sich herum.

Almut Gassmann, Kühlungsborn

Eine Jahrhundert-Reportage

Für mich ist die Berichterstattung über den NSU-Prozess eine "Jahrhundert-Reportage", die weit über das beschriebene Erleben dieses Prozesses hinausführt in unsere innerdeutsche Vergangenheit und Gegenwart, aber auch in die journalistische Arbeit gestern und heute. Wem und von wem wird heutzutage in einem Verlag noch so viel Zeit eingeräumt? Und wer hält ein solch zermürbendes Verfahren noch aus? Ich war selbst Journalistin und weiß, wie es einem geht, wenn man nur beobachtendes Mäuschen ist, weder sich räuspern geschweige denn schreien oder wenigstens Türen schlagen darf. Und das fünf Jahre lang!? Mich erinnert diese Reportage an die Arbeit der Egon-Erwin-Kisch-Preisträgerin Marie-Luise Scherer, die für den Spiegel über die "Hundegrenze" zwischen DDR und BRD nach langer Recherche einen ähnlich faszinierenden Bericht schrieb. Annette Ramelsberger wäre eine würdige Anwärterin für eben diesen Preis.

Ingrid Bergmann-Ehm, Augsburg/Neusäß

Verrohung der Gesellschaft

Besonders berührt hat mich Annette Ramelsbergers Satz: "Das Gefühl ist gewachsen, dass der Tod von zehn Menschen die Gesellschaft nur kurz erschüttert hat." Ich teile diese Wahrnehmung. Es ist unfassbar, welchen Weg der Verrohung und Spaltung unsere Gesellschaft derzeit zu gehen scheint. Die Demokratie sehe auch ich bedroht; auch und gerade von Seiten der Politik. Es sei an dieser Stelle dahingestellt zu überlegen, ob es für uns als Mitglieder der Gesellschaft ausreicht, nur mittels analphabetischen Kreuzes alle paar Jahre Einfluss nehmen zu können. Aber worauf ich eigentlich hinauswill, ist: Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 350 Frauen ermordet. Ein Großteil davon von ihren Männern/Partnern. Meine Wahrnehmung dazu ist, dass der Tod dieser Frauen die Gesellschaft in keiner Weise erschüttert, sie nicht einmal irgendwie tangiert. Das gilt auch für die SZ, die diesen Fakt unter "Verschiedenes" abhandelt und damit als bedauerliches Pech der Ermordeten.

Gisela Lässig, München

Hinweis

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