Missbrauchsfall Staufen:Wenn in Ämtern und Justiz Sozialkompetenz fehlt

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Eine Mutter führt ihrem Lebensgefährten und anderen Männern ihren Jungen zum Missbrauch zu, macht sogar mit. Was lief da schief bei den überwachenden Behörden? Ein Leser hat eine Erklärung dafür.

"Der blinde Fleck" vom 12. Juni:

Die Konstellation in dem Kindesmissbrauchsfall in Staufen, in dem eine Mutter aktiv ihr Kind dem Lebensgefährten und fremden Männern zum fortgesetzten Missbrauch preisgab, ist sicher zunächst ungewöhnlich. Gleichwohl jedoch nicht einzigartig. Das Muster der persönlichen Verhältnisse und Beziehungen der Täter und die Beziehung zum Opfer wiederholen sich in zahllosen anderen Fällen in gleicher oder ähnlicher Weise. Es geht um Abhängigkeiten, um persönliche und soziale Defizite und um Bildungsferne. Sicher sind diese Aspekte nicht dazu geeignet, jeden Fall zu erklären. Es dürfte aber auf der Hand liegen, dass die Persönlichkeit der Täter wesentlich für das Martyrium der Opfer ist.

Öffentlichkeit und Justiz konzentrieren sich auf die Aufarbeitung der Tat und nehmen den oder die Täter in den Fokus. Die weiteren Ursachen und die günstigen Umstände, die eine solche Tat überhaupt möglich machen, werden hierbei keiner Betrachtung unterzogen. Eine solche Betrachtung ist jedoch zwingend, wenn es tatsächlich gewollt ist, solche abscheulichen Taten in Zukunft möglichst zu verhindern.

Zu betrachten ist daher im Fall "Staufen" all das, was im Vorfeld quasi schiefgelaufen ist und damit die Tat befördert und erst möglich gemacht hat. Und es ist zu fragen, ob das Verhalten der Behörden und der Justiz im Fall "Staufen" ein Einzelfall war, oder darin nicht ein grundlegendes Problem in diesen Bereichen zu sehen ist.

Die hier zu formulierende Kritik schickt das Ergebnis voraus: Es fehlt nicht nur Personal bei Jugendämtern und Justiz, es fehlt an der sozialen Kompetenz. Diese ist insbesondere in zunehmendem Maße in der Richterschaft abnehmend. Die Besetzung von Stellen in Rechtsprechung und Justiz richtet sich nach starren Leistungskriterien. Voraussetzung für die Einstellung in den Staatsdienst, für die Besetzung des Richteramtes ist ein Prädikatsexamen. In der Juristenausbildung spielt allerdings nur die mechanische Anwendung der gesetzlichen Norm eine Rolle. Die Anwendung des Rechts unter Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte wird weder gelehrt noch geprüft. Jungen Juristen wird nicht beigebracht, dass sie als Richter einer besonderen Verantwortung unterliegen und ihre Entscheidung auch nach deren Verkündung in das Leben der Betroffenen dauerhaft hineinwirken.

Wenn die Rechtsprechung autokratisch stattfindet, verliert der Rechtsstaat bei seinen Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz. Langfristig wird der demokratische Rechtsstaat nachhaltig geschädigt und wird keinen Bestand haben. Wir steuern in diese Justiz. Wir steuern in sie, weil unser System - auch und gerade bei der Juristenausbildung - keine Erweiterung des persönlichen und fachlichen Horizontes mehr will, weil Lebenserfahrung keine Rolle mehr spielt, weil es wichtig ist, fachlich hoch qualifizierte Richter zu erhalten, die dem System schnell zur Verfügung stehen. Da bleibt keine Gelegenheit zu einem "Studium Generale".

Was bedeutet dies alles für den Missbrauchsfall in Staufen? Wie ein Familiengericht bei einer solchen Sachlage, also der Beziehung einer alleinerziehenden Mutter mit einem mehrfach vorbestraften Pädophilen, keine Sensibilität zum Schutz des minderjährigen Jungen entwickelt, ist nur dadurch erklärbar, dass Recht ohne Verstand und Verständnis angewendet wurde.

Es mag sein, dass den oder die Richter keine juristische Verantwortung trifft, auf die moralische Anklagebank gehören sie allemal.

Sven Bohnert, Baden-Baden

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