Meditation:Steter Flow statt Karriereturbo

Wer meditiert, ist laut Ergebnissen einer Studie nicht mehr so motiviert, die Karriereleiter emporzuklettern. Zwei Leser, Experten in Sachen Meditation, finden das sehr positiv.

Fahrstuhl

SZ-Zeichnung: Jan Rieckhoff

"Überentspannt" vom 4. Juni:

Fürsorgepflicht für Mitarbeiter

Der Artikel von Sebastian Herrmann zeigt, dass es nicht ausreicht, ein paar Studien zum Thema Achtsamkeit zu lesen, um Achtsamkeitsmeditation zu verstehen. Gerade in Zeiten, in denen psychische Erkrankungen die Hauptursache für Frühberentungen in Deutschland darstellen, ist es mehr als nachvollziehbar, dass sich Führungskräfte erfolgreicher Unternehmen Gedanken über die Belastbarkeit ihrer Mitarbeiter machen. Achtsamkeitsmeditation und Leistungsbereitschaft schließen sich nicht gegenseitig aus, auch wenn der Autor dies in seinem Beitrag suggeriert. Im Gegenteil: Wer achtsam mit sich und anderen umgeht und sich seiner Werte und Ziele bewusst ist, wird langfristig erfolgreicher und gegenüber Belastungen resilienter sein, als derjenige, der aus einer inneren Unzufriedenheit heraus kurzfristig Maximalleistungen erbringt und danach ausbrennt. Führungskräfte haben hier Vorbildfunktion wie auch Fürsorgepflicht.

Dr. Igor Tominschek, München Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Stellv. Vorsitzender der DATPPP

Fragwürdiger Ehrgeiz

Es ist interessant und mit Blick auf diese neue Kritik vielleicht sogar ein wenig amüsant, dass es in der öffentlichen Diskussion bezüglich der Implementierung von "Achtsamkeit in der Arbeitswelt" bisher nur die gegenteilige Kritik gegeben hat: dass die "Achtsamkeit in der Arbeitswelt" die kapitalistische Leistungslogik auf perfide Weise noch einmal befeuert - und das aus einer Geisteshaltung, die ursprünglich in einer spirituellen Selbstbeschränkung für eine tiefere Wirklichkeitsdimension öffnen sollte. Achtsamkeits-Aspiraten wappneten sich in diesem Sinn mit Achtsamkeit im Selbstoptimierungs-Wettkampf gegen die Konkurrenz, so der Vorwurf. Eine andere Variante dieser Kritik ist: Strukturelle Probleme in der Arbeitswelt, die auf der strukturellen Ebene gelöst werden sollten, würden individualisiert. Der Einzelne trainiere sich mit Achtsamkeit eine (falsch verstandene) Resilienz an, strukturelle Probleme in der Arbeitswelt würden damit geradezu verdeckt und zementiert. Nun also andersherum und immerhin auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung: Meditation, Achtsamkeitsmeditation als Motivationsräuber für das Arbeitsethos. Der SZ-Artikel bilanziert in der Zitation einer psychologischen Studie, dass positive Effekte geminderter Anspannung durch demotivierende Wirkungen egalisiert würden. Das heißt, die Achtsamkeit fahre insgesamt zumindest keine negative Leistungsbilanz ein. "Nur als Karriereturbo mit Erfolgsaussichten taugt sie eher nicht" - so das Fazit.

Zur neuen Kritik lässt sich entgegnen, dass es in der Tat so ist, dass durch die Achtsamkeitspraxis ein fragwürdiger Ehrgeiz, ein Erfolgsstreben, das keine "Persönlichkeitsmitte" hat und aus Ermangelung einer solchen gespeist wird, erschüttert werden kann. Insofern wäre eine Korrektur eines solchen Karrierestrebens aus meiner Sicht sogar wünschenswert und heilsam.

Entlarvend nehme ich dabei den angeführten Begriff "Karriereturbo" wahr. Unter dem lateinischen Verb "turbare", wovon sich Turbo ableitet, finde ich in Langenscheidts Taschenwörterbuch die Übersetzung "Verwirrung anrichten, Unruhe stiften, Aufruhr erregen, aufwühlen, trüben, aufregen, stören". Ja, dazu taugt die Achtsamkeit nicht. Und soll sie auch nicht taugen! Man mag diesen Verweis auf den Wortursprung als zu sophistisch empfinden, aber ich finde ihn - auch auf amüsante Weise - wunderbar erhellend.

Achtsamkeit taugt übrigens genauso wenig - zumindest auf längere Frist - für einen entfremdenden Turbokapitalismus. Wenn Menschen durch die Achtsamkeitsmeditation sich selbst wirklich näher kommen, man könnte auch sagen, authentischer werden, dann fügen sie sich nicht leichter in falsche äußere Situationen hinein, sondern erfahren sich tendenziell eher darin gestärkt, auch nach außen mit Selbst-Bewusstsein und in sozialer Verantwortung gestaltend aufzutreten.

Michael Seitlinger, Leiter des Forums Achtsamkeit und Stressbewältigung, Erwachsenenbildung in der Erzdiözese München und Freising

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen.

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