Mathematik:Gauß und mehr Goethe

Braucht es wirklich mehr an mathematischem Sachverstand? SZ-Leser sind in Resonanz auf Christian Hesses Postulat eher für Ausgewogenheit: Gauß ja, aber auch viel Goethe. Das ist Bildung.

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Leserbrief zu "Mehr Gauß, weniger Goethe" vom 8./9. April:

Nicht gegeneinander

Viel Bedenkenswertes steht in dem Artikel von Christian Hesse. Ja, manchen Menschen erscheint es "cool", damit zu kokettieren, schlecht in Mathe zu sein. Mir scheint aber, dass es inzwischen noch viel mehr Menschen gibt, denen es noch viel "cooler" erscheint, nichts von Goethe, nichts von Shakespeare zu wissen. Warum das Gegeneinander? Sicher ist es gut und richtig zu lernen, wie man in dieser komplexen Welt besser funktioniert. Umso wichtiger aber scheint mir die Frage nach dem Warum und Wofür zu sein. Kopf und Bauch liegen seit eh im Widerstreit miteinander. Am Ende aber gehören sie doch wohl zusammen.

Herbert Günther, Friedland

Unsinnige Alternative

"Mehr Daten-Kompetenz und weniger Dativ-Kompetenz" - was für ein missglückter Kalauer und was für eine unsinnige Alternative! Da klagen heute nicht allein die Deutschlehrer/innen, sondern gerade auch die Ausbilder in den technischen Berufen darüber, dass viele ihrer Schüler bzw. Auszubildenden keinen korrekten deutschen Satz mehr schreiben können, und hier wird ausdrücklich der Verzicht auf sprachliche Bildung empfohlen, als ob dieser unmittelbar der Mathematik als "der Schlüsselkompetenz des modernen Lebens" zugutekäme. Recht seltsam klingt dazu auch Hesses Begründung: "Mittlerweile gibt es mehr Zahlen als Wörter auf dieser Welt." Seine Schlussfolgerung ist sicherlich unangreifbar: "Wir brauchen... dringend ein höheres Niveau an quantitativer (d.h. zahlenbezogener) Bildung"; wie und warum wir aber, so ausgerüstet, "lernen" können, "mit geringen Informationen und wenig Zeit gute Entscheidungen zu treffen", das müsste noch etwas erläutert und konkretisiert werden. Könnte es vielleicht doch sein, dass die schlechten Mathematik-Leistungen an den Gymnasien, derentwegen die 130 Experten ihren Brandbrief geschrieben haben, wie auch die vielfach beklagten Deutschkenntnisse damit zusammenhängen, dass fünfzig Prozent eines Schülerjahrgangs auf der Hochschule einfach zu viel sind? Dafür aber sollte jedenfalls Goethe nicht büßen müssen.

Prof. Fidel Rädle, Göttingen

Was jetzt eigentlich?

Ein Professor für mathematische Statistik verlangt, in der gymnasialen Oberstufe - die ja demnächst wieder ein paar Wochenstunden mehr (oder doch weniger?) abbekommt - solle mehr (Überraschung!) mathematische Statistik gelehrt werden; aber "gesamtheitlich", also wohl mit sowohl Gauß als auch Goethe in einem Projekt. Wer das veranstalten soll? Sagt er nicht. Auch nicht, wie man mit (noch) weniger "qualitativer Bildung" mehr Begeisterung (oder reicht Toleranz?) für das von ihm so hochgehaltene "number crunching" entwickeln soll. Richtig ist daran sicherlich, dass man den Mathematik-Schulunterricht verbessern kann; aber gegen die Lehrer- und die Elternschaft zugleich wird es nicht gehen, und die Letzteren sind es ja gerade, die unsere mathematik-intolerante Gesellschaft bilden. Oder soll es doch zurückgehen zum Kopfrechnen "alter Schule"? Da wären bestimmt viele (Eltern) begeistert! Nur: Sinnlos ist es trotzdem - das kann nämlich jede x-beliebige App inzwischen besser!

Dr. Nils Heineking, Mering

Verlust an inhaltlicher Tiefe

Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass die Mathematik-Defizite auch viele Studienanfänger mit Gymnasialbildung und klassischem Abitur betreffen. Der Autor begrüßt ausdrücklich, dass in der Oberstufe der Schwerpunkt auf Kompetenzen statt auf mathematischem Grundlagenwissen liegt und "realitätsnahe Fragen" statt abstrakter Mathematik behandelt werden. Ist die Stärke der Mathematik nicht gerade ihre universelle Anwendbarkeit, unabhängig vom Sachkontext? Auf welchen fachlichen Grundlagen basiert der Mathematikunterricht in der Oberstufe eigentlich? Sollen die Hochschulen also die Grundausbildung im Bruchrechnen, dem Umformen von Termen und dem Lösen von Gleichungen übernehmen, wie dies aktuell in den vielen Vor- und Brückenkursen geschieht, die beinahe überall angeboten werden müssen? Ich dachte bisher, dass Einigkeit über den Bildungsauftrag der Schule und den Unterricht in den Kernfächern Deutsch und Mathematik besteht. Aber der Autor will ja noch einen Schritt weiter gehen und den Fachunterricht durch Projekte ersetzen, in denen Themen wie Big Data dann "gesamtheitlich behandelt werden". Interessierte Schüler belegen mathematische "Spezial-Projekte", für die anderen wird "das Fach an die Lebenswelt herangeführt". Der Beitrag verdeutlicht die Ziele einer konsequenten Kompetenzorientierung, die mit einer Entfachlichung und einem Verlust an inhaltlicher Tiefe einhergehen. Auch die Statistik und die Datenwissenschaften erfordern im Übrigen das Verständnis abstrakter mathematischer Grundlagen, sofern man zu seriösen Ergebnissen kommen will.

Prof. Dr. Heiko Knospe, Köln

Beides bildet

Wir brauchen nicht mehr Gauß und weniger Goethe, wir brauchen mehr Gauß und mehr Goethe. Nur mit Bildung kann man Probleme lösen.

Heiner Förderreuther, Herrsching

Die Schönheit erkennen

Liebe Mathe-Lehrkräfte: bitte mehr Feuer in Ihre Augen, bitte mehr Begeisterung, vor allem fürs Abstrakte! Zeigen Sie unseren Kindern die Schönheit der Mathematik, dann werden sie sie von selbst wiedererkennen: in der Flugbahn des Balls, in der Bach'schen Melodie (wahlweise: im Dubstep) genauso wie in den Wasserwirbeln eines Flusses, vielleicht sogar in ihren eigenen Verhaltensweisen beim OnlineGaming - wie cool ist das denn?!

Christoph Hein, Berlin

Wofür Geistesbildung gut ist

Kaum ein Geisteswissenschaftler würde sich anmaßen, die schulische Notwendigkeit der MINT-Kompetenzen anzuzweifeln oder gar deren gesellschaftspolitische Bedeutung. Umgekehrt scheint es zum guten Ton unter Bits-und-Bytes-Experten zu gehören, das für sie anscheinend Un(be)greifbare kultureller Geistesbildung zu diskreditieren, ihm seine Relevanz abzusprechen, und wenn nicht abzusprechen, dann im Bedeutsamkeitsumfang einzuschrumpfen: als schulisches Dekor oder abendliches Divertiment akzeptiert, aber ignoriert als identitätsstiftendes, unveräußerliches Fundament der Welt, in der wir leben. Das wäre nur armselig, wenn es privat geäußert würde. Es wird gefährlich, wenn man es öffentlich propagiert. Der Autor glaubt, es brauche mehr an mathematischem Sachverstand. Das bestreitet niemand. Zu behaupten, dieser könne uns , auf Kosten der Geistesbildung, alleine weiterhelfen, ist Dummheit. Es bräuchte im Gegenteil mehr kulturkritische Kompetenz, um zu verhindern, dass die so perfekt fachwissenschaftlich ausgebildeten Ingenieure zwar gut rechnen können, in moralisch-gesellschaftlichen Belangen aber auf dem Stand kleiner Mephistos sind. Denn dafür ist literarische Bildung gut: Sie sensibilisiert für das, das nicht Ich ist. Sie ermöglicht Empathiefähigkeit. Sie zwingt zur Auseinandersetzung mit dem, was sich den mathematischen Operationen entzieht. Sie stellt sich infrage. Sie schafft eine gesunde Distanz zu den herrschenden Verhältnissen. Das hilft manchmal, um die Welt nicht an die Wand zu fahren.

Dr. Alexander Huber, Braunschweig

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