Internet:Plötzlich abhängig

Ein Leser, selbst Informatikprofessor, reflektiert über die Fallstricke des Internets und zitiert Kant: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."

"Es war einmal das Individuum" vom 3. Dezember:

Der Artikel weist auf eine Gefahr hin, der sich die meisten Menschen und leider auch die Mehrzahl der Informatiker viel zu wenig bewusst sind: Mit der Vernetzung unserer Welt geben wir die Kontrolle über immer größere Bereiche unseres Lebens an externe Instanzen ab. Die oft zitierte Definition der Aufklärung von Immanuel Kant lautet so: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Andern zu bedienen. [...]Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! [...]Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen."

Derzeit haben immer mehr Menschen den kolossalen Mut, sich statt ihres eigenen Verstandes von Informationen aus dem Netz leiten zu lassen. Das Internet kennt die beste Diät, beruhigt mein (Umwelt-)Gewissen durch CO₂-Kompensation, findet das beste Schnäppchen, unterhält mich mit Spielen, steuert meine Heizung, mein Auto, meine Termine und Verabredungen - es steuert schon jetzt einen großen Teil unseres Lebens. Es liegt tief im Wesen der Computertechnologie begründet, dass sie ubiquitär, universell und normativ ist. Computer sind - zunächst in einem ganz neutralen Sinn - Erweiterungen unseres eigenen Verstandes. Die rasend schnelle Verbreitung der Smartphones beruht genau darauf, dass es so ungeheuer bequem ist, damit eben mal zu shoppen, zu chatten, zu spielen. Und ohne dass wir es merken, wird aus der Vernetzung eine Verstrickung, eine immer weiter zunehmende Abhängigkeit.

Der gesamte Prozess der Vernetzung läuft den Prinzipien der Aufklärung, der Idee des frei denkenden Menschen diametral zuwider. Die moderne Informationstechnologie ist zutiefst anti-aufklärerisch. Wenn Meixner das als Bedrohung unserer existenziellen Grundlagen bezeichnet, so ist dieser Aussage, so dramatisierend sie manchem vielleicht vorkommt, aus meiner Sicht ohne Abstriche zuzustimmen. Prof. Achim Clausing, Univ. Münster, Institut für Informatik

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen.

Außerdem behalten wir uns vor, Leserbriefe auch hier in der Digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und bei Süddeutsche.de zu veröffentlichen.

forum@sueddeutsche.de

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: