Gesundheitssystem:In Deutschland wird Pflege kleingeredet

Wie kann man den eklatanten Pflegenotstand in Krankenhaus und Altenheim beheben? Ganz sicher nicht damit, dass man die Ausbildung in Deutschland so lässt wie bisher, meinen Expertinnen in ihren Leserbriefen.

Gesundheitssystem: Welche Kenntnisse brauchen Pflegekräfte? Übung an einer Puppe in einem Münchner Krankenhaus.

Welche Kenntnisse brauchen Pflegekräfte? Übung an einer Puppe in einem Münchner Krankenhaus.

(Foto: Robert Haas)

"Sanfte Rebellen" vom 11. Oktober und "Biete Pflege, suche Prestige" vom 23./24. September:

Die Ausbildung stagniert

Während Pflegende in anderen Ländern mit hoher gesellschaftlicher Wertschätzung als Helden bezeichnet werden, tritt man ihnen in Deutschland mit einer Mischung aus zurückhaltendem Respekt, aber auch kaum verhohlener Geringschätzung entgegen. Dies durchzieht auch den Artikel "Biete Pflege, suche Prestige" und wird der Pflege nicht gerecht. In allen Bereichen der Pflege hat sich eine enorme Verdichtung der Arbeit vollzogen - im Krankenhaus unter anderem ausgelöst durch jahrelangen Personalabbau, der so weit ging, dass schon vom pflegefreien Krankenhaus die Rede war. Die Arbeitsbedingungen haben sich damit einhergehend verschlechtert. Zugleich sind die fachlichen Anforderungen gestiegen. So nimmt nicht wunder, dass sich der sich aktuell zuspitzende Fachkräftemangel in der Pflege dort besonders stark bemerkbar macht.

Doch während die Anforderungen enorm wachsen, stagnieren die Ausbildungsstrukturen in Deutschland, wie die Auseinandersetzungen über das Pflegeberufegesetz gezeigt haben, in denen die vorgelegten Reformvorschläge mit großem Beharrungsvermögen kleingearbeitet wurden. Bleibt die Pflege also auch künftig in Deutschland eher ein vormoderner Helferberuf? Auch ein Blick auf die vor 20 Jahren eingerichteten Pflegestudiengänge und die bisher erreichten Absolventenzahlen scheint dies anzudeuten.

Diese Studiengänge wurden nicht etwa etabliert, um der Pflege mehr Prestige zu verleihen, sondern um dem enormen Anforderungswandel und den Modernisierungserfordernissen in diesem Beruf nachkommen zu können. Während andere Länder sich bemühen, mit innovativen Ausbildungsstrukturen zu einem hochqualifizierten, modernen Beruf zu kommen, halten wir in Deutschland an überholten Bildern von der Pflege fest und befördern statt Professionalisierung und Modernisierung deren Prekarisierung. Selbst Österreich hat inzwischen beschlossen, die gesamte Pflegeausbildung auf akademisches Niveau zu verlagern, und Österreich ist weder das erste noch das einzige Land, das diesen Schritt getan hat. In Deutschland begnügen wir uns wenig mutig mit der Forderung, in allen Gesundheitsberufen einen Anteil von zehn bis 20 Prozent an akademisch Qualifizierten anzusteuern. Erreicht wurden bislang nicht einmal zwei Prozent. Prof. Doris Schaeffer, Bielefeld

Platz eins

Warum gibt es keine breite gesellschaftliche Bewegung für mehr Humanität in der Pflege? Wenn die Politik will, kann sie rasch reagieren. Im Pflegebereich dagegen herrscht seit Jahren Stillstand. Was für eine inhumane und herzlose Gesellschaft sind wir eigentlich, wenn wir unsere Alten und Pflegebedürftigen so im Stich lassen? Der Pflegenotstand gehört auf Platz eins bei den Koalitionsverhandlungen. Marieluise Fieger-Besdziek, Freiburg

Verantwortung ausweiten

Es geht für Pflegerinnen und Pfleger nicht darum, mit Ärzten in der Arbeit zu konkurrieren, wie von dem in "Biete Pflege, suche Prestige" zitierten Gesundheitsökonomen Günter Neubauer unterstellt wird. Pflege konzentriert sich auf das Kranksein, die Auswirkungen einer Krankheit, die möglichen gesundheitsschädigenden Folgen der Beeinträchtigungen durch eine Krankheit. Pflegende nehmen (sollten nehmen) eine andere Perspektive auf dieselben Patienten ein, die von Ärzten therapiert werden. Arztassistenz als Karrierechance kommt einer Herabwürdigung verantwortlicher Pflege gleich.

Der Pflegenotstand ist ein quantitativer und ein qualitativer, also auch ein Bildungsnotstand. Leider kann der Mangel an Personen kaum durch Technik kompensiert werden, da zentrale Bestandteile von Pflege in der Interaktion zwischen Patienten und Pflegenden bestehen. Studien, die internationale Vergleiche heranziehen, weisen nach, dass es in deutschen Krankenhäusern etwa 100 000 Pflegestellen mehr geben müsste. Außerdem zeigen umfangreiche, auch europäische Untersuchungen, was bei Personalmangel von den Pflegenden unterlassen wird. Das sind vor allem die vorausschauenden Aufgaben wie die Verhütung von negativen Krankheitsfolgen (Wundliegen, Mangelernährung, Lungenentzündung, Thrombose) und es ist Beratung, damit Patienten besser lernen, mit ihrer Krankheit umzugehen, die in vielen Fällen chronisch ist.

Eine schlechte Personalbesetzung im Pflegedienst und nachgewiesenermaßen auch zu geringe Pflegebildung hängen auch mit dem Tod von Patienten im Krankenhaus zusammen.

Welche Kenntnisse für eine angemessene Pflege erforderlich sind, ist zum Beispiel den forschungsbasierten Expertenstandards für die Pflege zu entnehmen. Diese aber werden teilweise wegen mangelnder Kenntnisse nicht umgesetzt. Selbstverständlich müssen Pflegeaufgaben erweitert werden, sie müssen die Grenzen von Versorgungseinrichtungen überschreiten, Versorgungspfade leiten und begleiten, müssen Pflegebedürftigkeit vorbeugen. Hier sind Ausweitungen der Verantwortung erforderlich, und hier setzt unter anderem die grundständige akademische Bildung an, wie sie in den vergangenen Jahren auch in Deutschland als einem der letzten europäischen Länder mit fast ausschließlich fachschulischer Bildung in der Pflege begonnen wurde.

Leider wird auch in Ihrem Artikel die berufliche Pflegearbeit auf physische und psychische Belastbarkeit reduziert, intellektuelle Notwendigkeiten scheint es in der Pflege - außer für Arztassistenz - nicht zu geben. Und wenn die Versorgung von zunehmend mehr Menschen durch eine Pflegefachperson zu einer besseren Bezahlung führen würde, wie es der Gesundheitsökonom im Artikel unterstellt, dann hätte in den vergangenen Jahren das Gehalt der Pflegenden rasant steigen müssen. Prof. Sabine Bartholomeyczik, Witten

Höhere Löhne, mehr Personal

"Sanfte Rebellen" vom 11. Oktober: Die Pflegeversicherungsreform hat uns bei der Bekämpfung des Pflegenotstands nicht weitergebracht. Die vom Gesetzgeber bevorzugte Ambulantisierung der Pflege verstärkt die Deregulierung des Pflegearbeitsmarktes noch. Der Wettbewerb für qualifizierte Pflegekräfte verschärft sich drastisch, an sich ein günstiger Zeitpunkt für deren Lohnforderungen. Auch wenn ihre Organisationsbereitschaft leider gering ist - sie nur als Opfer zu sehen, ist falsch. Sie haben die Wahl, sich für Unternehmen, die tariflich gebunden sind oder die gesetzliche Mitbestimmung umgesetzt haben, zu entscheiden. Bessere Arbeitsbedingungen sind dabei so notwendig wie höhere Löhne.

Der Krankheitsausfall in der Altenpflege ist der höchste unter allen Branchen, was mit den höheren Ansteckungsrisiken als auch mit den durchaus veränderbaren Belastungen zu tun hat. Diese Tatsache muss von den Kostenträgern bei der Bemessung der Personalressourcen endlich einkalkuliert werden, sonst entkommen wir der Abwärtsspirale des Pflegenotstands nicht. Kostenstabilitätsziele dürfen nicht bestimmen, wie viel Pflege wir uns leisten können. Hans Kopp, Neubiberg

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