Flüchtlinge:Legalität und Humanität

Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ sich am 10. September 2015 in Berlin mit Flüchtlingen ablichten. Noch heute wird darüber gestritten, was Gesten wie diese auslösten, wie diese Leserbriefe zeigen.

Flüchtlinge: Selfie mit der Kanzlerin: Angela Merkel im September 2015 in Berlin.

Selfie mit der Kanzlerin: Angela Merkel im September 2015 in Berlin.

(Foto: Bernd Von Jutrczenka/dpa)

"Europa schließt die Türen" und "Wir sind doch nicht verantwortlich" vom 30. Juni/ 1. Juli sowie "Fehler, Mythen, Lügen" vom 29. Juni:

Politisch korrekte Entscheidung

Die sachliche Rückblende "Fehler, Mythen, Lügen" mit genauen zeitlichen Angaben und politischen Entscheidungen zur Flüchtlingssituation seit September 2015 zeigt endlich auf, dass: Angela Merkel durch Aufnahme der Flüchtlinge Österreich entlastete; der damalige Innenminister Thomas de Maizière die gewaltige Polizeiabwehr mit all ihren Folgen an den Grenzen ablehnte, als humanitäre und politisch verantwortungsvolle Konsequenz; eine Zurückweisung an Grenzen ohne Prüfung der Asylanträge gegen europäisches Recht verstößt und es deshalb eine politisch korrekte Entscheidung war.

Aber diese Tatsachen interessieren alle populistischen und stark rechts tendierenden Parteien überhaupt nicht. Ihnen sind Verunglimpfungen von verantwortlichen Politikern/innen wichtiger. Nachhaltig vernünftige, gesetzlich realisierbare und vor allem humane Lösungsvorschläge bringen sie nicht.

Sibylle Paulus, München

Mythos Freundlichkeit

Ein besonders wichtiger Mythos ist: Angela Merkel hat mit ihrer Freundlichkeit die Flüchtlingswelle hervorgerufen oder zumindest wesentlich verschärft. Warum geht Stefan Braun diesem besonders wirksamem Mythos nicht nach? Auf den ersten Blick erscheint die Behauptung zwar plausibel, aber eine kritische Betrachtung der statistischen Zahlen untermauert die Behauptung gar nicht. Aus der Entwicklung der Zahlen zu registrierten Asylsuchenden ist nicht nur erkennbar, dass die Zahlen schon vor Merkels Entscheidungen und Äußerungen Anfang September 2015 deutlich nach oben gingen. Vor allem sieht man auch, dass sie nach November 2015 wieder nach unten gehen. Bedenkt man, dass für die Flüchtlinge aus dem Orient oder Afrika die Zeit zwischen Entscheidung zur Flucht und dem Ankommen in Deutschland damals zwischen einem Monat und fünf Jahren gelegen hat, für Syrer im Mittel wohl mindestens drei Monate, können Merkels Äußerungen nicht so entscheidend für die Zahlenentwicklung gewesen sein. Denn dann hätten die Zahlen nach November 2015 nicht abnehmen, sondern zunehmen müssen. Das war aber nicht so.

Ulrich Waas, Röttenbach

Wer bedroht uns?

Endlich ein Artikel, der verständlich und klar darüber aufklärt, was in der Flüchtlingssituation geltendes Recht ist und was "illegal" oder "Unrecht". Die öffentliche Diskussion wird immer stärker durch Begriffe geprägt, die sich in den Köpfen festsetzen und damit die Wahrnehmung der Realität, ja die Realität verändern. Vergessen ist die "Willkommenskultur". Jetzt geht es bei der Schließung der Grenzen angeblich um die "Wiederherstellung des geltenden Rechts". Gegen diese Politik der falschen "Besetzung von Begriffen" muss viel eher und stärker vorgegangen werden.

Zum Beispiel geht es auch um die fälschliche Besetzung des Begriffs "Sicherheit". Die "Sicherung der Außengrenzen" ist schon fast Standard in unserer Sprache, wenn es um Flüchtlinge geht. Wer bedroht denn eigentlich unsere Sicherheit? Steht ein feindliches bewaffnetes Heer vor unseren Grenzen, das uns bedroht, so als wenn die "Hunnen kommen" oder die "Osmanen" oder die "Sarazenen" oder "der Russe"? So kann man auch leicht Gesetze fordern und beschließen (wie in Ungarn), wonach die Hilfe für Flüchtlinge unter Strafe gestellt oder Flüchtlingshilfe ohne Weiteres mit Schleuserarbeit gleichgestellt wird. Was passiert da mit unserer Sprache, die auch in vielen Medien gebraucht und einfach so unkritisch zitiert wird?

Jochen Schweitzer, Münster

Kontrollverlust das Wort geredet

Stefan Braun bemüht sich in "Fehler, Mythen, Lügen" um Ausgewogenheit. Von einer gelungenen "Entlarvung" der Gegner Merkel'scher Flüchtlingspolitik kann freilich keine Rede sein. Natürlich waren die Grenzen schon offen. Aber die Flüchtlinge, die am 4. September 2015 über ungarische Autobahnen in Richtung Österreich liefen, hätten nach dem deutschen Grundgesetz und nach den europäischen Abkommen in Ungarn bleiben müssen. Für diese Menschen öffnete Kanzlerin Angela Merkel die Grenzen sehr wohl. Und das Signal ging bis in den Nahen Osten. Und natürlich war das Vorgehen auch nicht abgestimmt mit den wichtigsten europäischen Partnern. Abstimmung heißt ja wohl mehr als ein oder zwei Anrufe beim Bundeskanzler Österreichs. Zumindest mit den größten Partnern wäre eine Abstimmung zwingend gewesen. Dieser Alleingang Deutschlands hat die europäischen Nachbarn vor den Kopf gestoßen und war ein großer Fehler.

Jeder vernünftige Zeitgenosse mit Herz hätte wohl im September 2015 verstanden, dass die Grenzen vorübergehend, ein paar Wochen, geöffnet geblieben wären. Das wäre der humanitären Ausnahmesituation auf dem Balkan geschuldet gewesen. Die nötige Begrenztheit dieser humanitären Aktion hätte nicht nur von der Bundeskanzlerin klar und deutlich der eigenen Bevölkerung kommuniziert werden müssen, sie hätte von Merkel auch verstanden werden müssen. Das hat sie nicht. Vielmehr hat sie über Wochen und Monate den Eindruck erweckt, ja es sogar explizit formuliert, dass Grenzen im Zeitalter der Globalisierung ihre Funktion, ja ihren Sinn verloren hätten.

Die Einschätzung, dass Grenzen ihre Funktion verloren hätten und die Politik letztlich gegen Massenmigration nichts machen könne und solle, war und ist eine unfassbare Fehleinschätzung, ein politisches Versagen und hat weite Teile dieser Gesellschaft geradezu verstört. Die Sicherung der EU-Außengrenzen, notfalls mit robusten Maßnahmen (mit "unschönen Bildern"), ist die unabdingbare Voraussetzung für all die Freiheiten, für Wohlstand und funktionierende Gemeinwesen innerhalb der EU. Die Grenze darf ja durchlässig sein. Aber kontrolliert durchlässig. Merkel dagegen hat geradezu dem politischen Kontrollverlust das Wort geredet.

Robert Danzer, München

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen.

Außerdem behalten wir uns vor, Leserbriefe auch hier in der Digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und bei Süddeutsche.de zu veröffentlichen.

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