EU:Thatchers Albtraum

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Dass die neue britische Premierministerin May als Erstes eine Reise nach Berlin unternimmt, zeigt wie sich die Machtverhältnisse in Europa verschoben haben. Vor einigen Jahren wäre das undenkbar gewesen.

"Neugierig auf Mrs May" vom 21. Juli:

Politik lebt von Symbolen. Die Wahl des Landes für den ersten Antrittsbesuch eines neuen Regierungschefs hat symbolischen Gehalt. Äußert sich darin doch eine privilegierte Wertschätzung gegenüber einem einzigen anderen Land. Theresa May hat ihre erste Auslandsvisite in Berlin bei der deutschen Bundeskanzlerin bestritten. Sie ist damit die Erste im Amt des britischen Premierministers, die zu allererst in Deutschland vorstellig wird. Das ist bemerkenswert. Denn üblicherweise sind entweder Washington oder Paris die bevorzugten Destinationen für Her Majesty's Prime Minister. Dass nun nicht die alten Erzverbündeten USA und Frankreich, sondern der ehemalige Kriegsgegner als Erstes konsultiert wird, symbolisiert die faktische Machtverschiebung in Europa.

Das wiedervereinigte Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren zum politisch und wirtschaftlich stärksten Land des Kontinents entwickelt. Die Architektur der Europäischen Union hat diesen Aufstieg letztlich ermöglicht. Deutschland ist stark, weil es das politisch-ökonomische Machtzentrum der EU ist. Durch die EU kommt Deutschland damit zugleich weltpolitisches Gewicht zu.

Der Antrittsbesuch von Theresa May unterstreicht diesen Bedeutungsgewinn Deutschlands symbolisch. May ist sich bewusst, dass sie den Brexit nur in Kooperation mit der EU zum Erfolg bringen kann. Doch der Schlüssel dafür liegt in Deutschland - nicht nur, weil die deutsch-britische Wirtschaft aufs Engste miteinander verzahnt ist, sondern weil Deutschland das politisch stabilste Land in der EU ist. In den meisten anderen Ländern der EU ist der innenpolitische Druck auf die Regierungen so hoch, dass in naher Zukunft Veränderungen an der Staatsspitze wahrscheinlich sind. Mit Merkel muss sie aber rechnen. Deshalb sucht sie, politisch klug, von Beginn an den Schulterschluss mit Berlin.

Es ist die Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die erste Nachfolgerin von Margaret Thatcher mit diesem Antrittsbesuch in Deutschland die größten Befürchtungen der Iron Lady wahr macht. Thatcher war im Zuge der deutschen Wiedervereinigung bekanntlich sehr reserviert, weil sie eine Dominanz des wiedervereinigten Deutschlands fürchtete. Mays erster Auslandsbesuch bewahrheitet deshalb Thatchers Albtraum - symbolisch.

Gregor Bloch, Gießen

© SZ vom 04.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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