Deutschland:Wann schaffen wir die Armut endlich ab?

12,9 Millionen Menschen sind hierzulande von Armut bedroht, beklagt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Doch was bedeutet Armut eigentlich? Und warum gibt es sie im reichen Deutschland noch? Leser klären auf.

Poverty In Germany

Der Wohlstand wächst, aber auch die Zahl der Armen: Suppenküche in Berlin.

(Foto: Getty)

"Worum es wirklich geht" und "Risikogruppe Rentner" vom 3. März sowie "Die Vermögen sind sehr schief verteilt" vom 2. März:

Achillesferse des Kapitalismus

Wie lange müssen wir die Ungleichverteilung bei Vermögen und Einkommen eigentlich noch ertragen? Soll das etwa weitere 200 Jahre so gehen? Ist der Kapitalismus so starrköpfig und reformresistent, dass er sich an eine "Reparatur" seiner Achillesferse nicht herantraut? Auf Dauer jedenfalls werden sich die Menschen nicht vertrösten lassen mit einer selbstgestrickten Metaphysik, von Glaubenssätzen, die der Realität noch nie standgehalten haben. Da werden Calvinismus, Puritanismus und Bibelelemente (Askese, Zucht, protestantische Ethik), wonach Fleiß, Bildung, Demut, das Gute im Menschen immer die Oberhand behielten, zu einer "Heilsalbe" vermischt, die angesichts der Lebenswirklichkeit wie ein Placebo anmutet.

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass materielle Anerkennung für eine erbrachte Leistung das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung des Menschen steigert. Das zeigt sich auch daran, wie Kinder aus wohlhabenden Familien, selbstbewusst, in sich ruhend, ausgeglichen, stabiler und gefestigter in ihrem Auftreten sind als gedemütigte, gedrückte, verunsicherte Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Milieus. Diesen Malus dürfen wir nicht hinnehmen wie einen nicht zu behebenden genetischen Defekt, sondern begreifen als einen immanenten, aus der Gesellschaft selbst generierten.

Klaus Kaldemorgen spricht im SZ-Interview die Ungleichverteilung von Vermögen für einen Fondsmanager erstaunlich offen an. Wie aber die von ihm angesprochenen "anderen gut 80 Prozent" in Zukunft am Geldsegen teilhaben können, dazu sagt er uns nichts? Und so ganz mag man ihm die Sorge um die Vermögensschieflage nicht abnehmen. Wie er seinen Job als Vermögensverwalter mit einem "Dienst", den er der Gesellschaft erweisen wolle, begründen will, welchen lediglich die "reichen 25 Prozent" der Gesellschaft in Anspruch nehmen können, ist nicht ganz nachvollziehbar. Schließlich haben die übrigen 75 Prozent mit ihrer Schufterei einen erheblichen Anteil daran, dass die "Upper Ten" sich derart profitable Vermögensanlagen erlauben können.

Wolfgang Gerhards, Berlin

Arm und reich - das ist relativ

Mit steigenden Haushaltseinkommen nimmt deren Spreizung aus folgendem Grund zu, und damit auch die statistisch erfasste Armut: Wenn alle Löhne gleichmäßig stark steigen, sind alle absolut wohlhabender, aber der relative Anteil der Geringverdiener bleibt gleich; und absolut erhöhte Einkommen der Eltern führen zu mehr selbständigen Haushalten von Studenten und Lehrlingen, und damit zu einem erhöhten Anteil der statistisch erfassten Geringverdiener-Haushalte.

Die statistisch erfasste Armut, also wenn das Haushaltseinkommen pro Kopf unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt, sagt nichts über die wirkliche Armut aus, sondern nur etwas über die Einkommensspreizung. Wenn alle doppelt so viel verdienen, bleibt der statistische Ar-mutsanteil gleich, obwohl es den Armen sehr viel besser geht. Wenn Reiche weniger werden, sinkt der statistische Armutsanteil, obwohl die Armut nicht zurückgeht. In Gegenden mit geringen Löhnen und geringen Lebenshaltungs-, Miet-, Grundstücks- und Baukosten empfinden sich Facharbeiter nicht als arm, auch wenn sie statistisch so erfasst werden.

Wolfgang Maucksch, Herrieden

Skandalöse Zustände

Worum es wirklich geht? Angesichts der skandalösen Armut zuallerletzt um Definitionsfragen! Detlef Esslinger meint in seinem Kommentar, dass es in Deutschland gar nicht um Armut gehe, sondern um Ungleichheit. Da haben die 12,9 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, eine um zehn Jahre (!) kürzere Lebenserwartung als die mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens, da leben in Deutschland 20 Prozent der Kinder in Haushalten unter der Armutsgrenze, da steigt in einem Land, dessen Wohlstand jährlich wächst, gleichzeitig die Zahl der Armen - und der SZ ist diese Formulierungshilfe einen ganzen Kommentar wert.

Auch wenn die SZ sicher nicht vorrangig von den Armen gelesen wird, wäre es doch wesentlich wichtiger, einmal zu veranschaulichen, was Armut in Deutschland bedeutet. Wenn ein Vier-Personen-Haushalt an der Armutsgefährdungsschwelle 1978 Euro zur Verfügung hat, dann muss in einer nicht besonders teuren Stadt wie Lüneburg mindestens die Hälfte für die Miete einer Vierzimmerwohnung veranschlagt werden. Bleiben vielleicht 900 bis 1000 Euro zum täglichen Leben. Das ist weniger als die 1276 Euro, die solch einer Familie als Existenzminimum per Hartz IV zustünden. Es bleibt kein Geld, damit die Kinder im Verein Sport ausüben, in der Musikschule ein Instrument erlernen und ein solches erwerben können. Es bleibt kein Geld für ein Auto oder um wenigstens zwei Wochen im Jahr einmal verreisen zu können. Das aber sind die Normen, mit denen diese Kinder unter Gleichaltrigen konfrontiert und an denen sie gemessen werden - nicht die Normen und Maßstäbe in Rumänien oder in Burkina Faso. Und deshalb definiert die EU völlig zu Recht Armut nicht absolut, sondern relativ.

Immer wieder wird die extreme Chancenungerechtigkeit in Deutschland in internationalen Untersuchungen hervorgehoben. Das ist ein Skandal - und deshalb sind die Forderungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mehr als berechtigt.

Zusätzliche zweistellige Milliardenbeträge für mehr Bildung sind für unsere reiche Gesellschaft nicht nur lächerlich wenig, sie wären auch ein wirksames Mittel gegen rechtspopulistische Strömungen, wenn man bedenkt, dass in den vergangenen Landtagswahlen die AfD gerade unter den Armen hohen Zuspruch erhalten hat. Es war sehr erfreulich, als Kanzlerin Angela Merkel 2015 die Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen unterstützte. Wann wird sie sagen: "Wir schaffen das, die Armut in Deutschland zu bekämpfen"?

Peter Böhme, Lüneburg

Geringere Lebenserwartung

In "Worum es wirklich geht" hält Detlef Esslinger den Wohlfahrtsverbänden vor, sie verwechselten in ihrem Armutsbericht soziale Ungleichheit mit Armut. In einer "reichen" Gesellschaft wie Deutschland finde soziale Ungleichheit auf einem materiellen Niveau statt, das nicht auf den Ausschluss von substanziellen gesellschaftlichen Teilhabechancen hinweisen müsse.

Nur: Wenn bei Männern und Frauen, die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen, die Lebenserwartung um 3,3 beziehungsweise fünf Jahre niedriger ist als bei ihren GeschlechtsgenossInnen mit 60 bis 80 Prozent des Durchschnittseinkommens, so ist dies sehr wohl ein deutliches Signal für eine fundamentale Benachteiligung hinsichtlich existenzieller Lebenschancen. Es geht hier nicht darum, ob jemand sich ein Auto leisten kann oder nicht, sondern darum, ob der Leichenwagen einige Jahre früher vor der Türe steht. Soll das kein politisch relevanter Armutsindikator sein?

Dr. med. Fred-Jürgen Beier, Nürnberg

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