Depressionen:Die Zornesfalte hat tiefere Bedeutung

Ein Artikel über eine neue Behandlungsmethode für Depressionen hat eine Leserin, selbst Psychotherapeutin, zu einem nachdenklichen Brief inspiriert. Die Therapie mit Botulinumtoxin kaschiert aus ihrer Sicht nur das Problem.

"Heilen mit Gift" vom 11./12. November:

Danke für Ihren schön recherchierten Artikel über Botulinumtoxin. Mir sind die Befunde auch aus dem Bereich der Embodiment-Forschung bekannt - und ich muss seit geraumer Zeit als Psychotherapeutin und Verhaltenstherapeutin über dieses Phänomen nachdenken. Je länger ich es tue, desto mehr merke ich, dass wir bei der Anwendung von Botox bei Depressionen "gute Miene zu bösem Spiel" machen. Dass Klienten unter Depressionen leiden, vor allem, wenn sie chronisch werden, erlebe ich jeden Tag in meiner Praxis sehr deutlich und ich möchte diese Leiden lindern und lösen helfen. Das ist eine meiner Lebensaufgaben. Ich frage mich, ob wir nicht als Therapeuten zu früh aufgeben und versagen, wenn wir nach solchen Lösungen greifen.

Jede Emotion hat einen guten Grund (verhaltenstherapeutisch gesprochen: Auslöser). Depressionen - auch wenn sie chronisch sind - sind nicht als Störer oder Querulation da, sondern ein wertvoller Hinweis auf eine Schieflage im Leben eines Klienten, sei sie nun stoffwechselbedingt/endogen, seelisch oder beides. Depressionen haben einen Wert und es "verdient", in jedem Fall aufs Neue erforscht und wahrgenommen zu werden. Bei konsequentem Weiterdenken der Botox-Therapie bei chronifizierten Depressionen würden wir Ärzte und Therapeuten Handlanger einer Gesellschaft werden, die eine (über-)lebenswichtige Information und Resonanz der Seele per Gift in einen Lähmungszustand versetzt. Am Schluss funktioniert alles mit glatter Stirn ... aber war es das?

Die Aufgabe besteht doch darin, in jedem einzelnen Leben den Auslöser zu erforschen und das Bedürfnis wahrnehmen zu lernen, das dahinter steht und Ideen zu sammeln, die realisierbar einer Befriedigung dienen. Die Stirnfalte kann sich auch lösen, wenn der individuelle Mangel gesehen wird. Eine der Hauptursachen für Depressionen liegt im Verlust von Kontakten. Oft geht es um den Bedarf ehrlicher und tiefer Beziehungen, Freundschaft und überhaupt - mehr Verbundenheit. Ist das nicht eine wertvolle Richtung? Soll das "weggebügelt" oder weg-gespritzt werden? Zu merken, dass es lösend sein könnte, zum Beispiel wandern zu gehen, zusammen mehr zu singen, vielleicht auch öfter zu weinen und zu beten, wäre auch für die Umgebung ehrlicher und wertvoller als die gute Miene zum bösen Spiel zu machen - oder in diesem Fall zu seinem einsamem Herzen eine glatte Stirn hinzubügeln. Prof. Eva Jäger, München

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