Das neue G9:Segen und Fluch

Bayern kehrt zurück zum neunjährigen Gymnasium. Ein Leser erklärt, warum eine längere Schulzeit ein Standortvorteil für Deutschland ist. Andere Leser sehen im neuen System auch Nachteile.

Im Freibad

Zeichnung: Karin Mihm

"Wundertüte für alle" vom 7. April sowie "Bayern kehrt zum G 9 zurück" und "Zurück in die Zukunft" vom 6. April:

Vorteil für Deutschland

Bildung ist eine grundsätzlich langfristig angelegte Sache, die auch der Persönlichkeitsentwicklung bedarf und mit kurzfristigen Leistungen, angeblichen aktuellen Leistungsständen (im Augenblick des Schulabschlusses oder bei der unsäglich schlecht konzipierten Pisa-Studie) sowie akuten Stressbelastungsstudien nicht annähernd zu erfassen ist. Insofern zeigt mir als Vater und Lehrer die Tatsache, dass "Bildungsforscher" nun die Cortisolspiegel in den Haaren der Oberstufenschüler messen, nur die Engstirnigkeit, Weltfremdheit und Ahnungslosigkeit angeblicher Experten gegenüber der tatsächlichen Komplexität ihres Forschungsgegenstands.

Ein etwas späteres Abitur bedeutet eine breitere Allgemeinbildung, ein Sich-Setzen von Lerninhalten, ein Nachreifen der Persönlichkeit noch an der Schule (was sich in der stark gesteigerten Vermittelbarkeit komplexer Stoffe in einer 13. Jahrgangsstufe immer sehr klar gezeigt hat) und die dringend gebotene Verlagerung der Berufswahl möglichst weit weg aus jenem dafür ungeeignetsten Lebensabschnitt, also aus der Pubertät. Unter anderem machen all diese zunächst schlecht messbaren Faktoren, deren Existenz und Bedeutung der Einserjurist Edmund Stoiber, verblendet von persönlichem Politikerehrgeiz, nie begriffen hat, das G 9 im internationalen Vergleich zu einem mittel- und langfristigen Standortvorteil der Bundesrepublik (wie er sich seit Langem schon in Produktivität und Wohlstand unseres Gemeinwesens widerspiegelt); wenn wir jemandem hinterherhinken, dann nur kurzfristig jenen Beschleunigungsfetischisten, denen bald schon Atem und Bildung ausgehen.

Der bedeutendste, aber öffentlich stets unterschlagene Beweggrund für die Einführung des G 8 war ohnehin stets die verführerische Aussicht auf eine etwa zehnprozentige Einsparung bei Gymnasiallehrerstellen in den chronisch klammen Etats der Bundesländer. Die bildungspolitische Schnäppchenjagd, die damit eröffnet wurde, geht - auch weil Eltern schließlich doch gebildeter waren als die eindimensionalen Experten - nun Gott sei Dank zu Ende, wenn auch zunächst noch unter verbalen und organisatorischen Rückzugsgefechten. Michael Lohr, Ettringen

Durchfallen ist ein Kunststück

Dass der Lehrplan im neuen G 9 "nicht gestreckt, sondern ausgebaut werden" soll, bedeutet leider noch lange nicht die notwendige Abkehr von einer Bildungspolitik, in der das Gymnasium zu einer "Volks-schule" wurde, die inzwischen jedem Zweiten das Abiturzeugnis garantiert; denn der Ausbau des Lehrplans führt nicht automatisch zu anspruchsvolleren Prüfungen, zur schwereren Erreichbarkeit von guten Noten. Das neue G 9 wird ganz im Gegenteil den Zustrom ans Gymnasium weiter erhöhen, den Realschulen geeignete Schüler wegnehmen, noch mehr studierunfähige Abiturienten produzieren, die dann die Universitäten belasten und letztlich ihr Studium abbrechen.

Warum? Weil das Grundübel des Gymnasiums (G 8 und vorher schon G 9) nicht beseitigt, sondern verstärkt wird. Das Grundübel besteht in zu leichten Prüfungsaufgaben, in der Überbewertung rein mündlicher Leistungen, in der überaus milden Korrektur der Schulaufgaben und der schriftlichen Abitur-Prüfungen. Es ist ein Kunststück, durchzufallen.

Für die Verstärkung dieses Übels gibt es einen schlagenden Beweis: Es ist die breite "Überholspur", auf der dann wahrscheinlich 20 bis 30 Prozent der Schüler fahren werden. Wie niedrig muss das Anspruchsniveau des neuen G 9 auf der Normalspur sein, wenn ein ziemlich hoher Prozentsatz der Schüler mit ein paar zusätzlichen Stunden in der neunten und zehnten Klasse die elfte Klasse mühelos und ohne Nachteile überspringen kann!

Richtig wäre es gewesen, die Anforderungen des neuen G 9 deutlich zu steigern und eine Überholspur nicht zuzulassen. Aber das widerspräche einer seltsamen Tendenz unserer Zeit: Erstrebenswert ist aus Gründen der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit das Abitur für alle. Wolfgang Illauer, Neusäß-Westheim

Das muss klug begleitet werden

Mit der Überschrift "Bayern kehrt zum G 9 zurück" irrt sich die SZ. Der aktuelle Beschluss der CSU-Fraktion bedeutet sicherlich keine Rückkehr zum G 9. Es wurde nämlich ein neuer Schultyp geschaffen: das G 8+1, wobei das +1 für eine Art eingeschobenes Zusatzjahr in der elften Jahrgangsstufe steht. Schließlich ist jetzt schon festgelegt, dass man diese Klasse überspringen kann oder ins Ausland darf ("Überholspur"), also in der elften Klasse offensichtlich nichts Wesentliches gelehrt oder gelernt wird, was man später für das Abitur braucht. Dabei drängt sich die Frage auf, ob man einer Schülerin das Auslandsjahr in der elften Klasse verweigern kann, wenn sie und ihre Eltern sich erst am Ende der zehnten dafür entscheiden (ohne die nachmittäglichen Zusatzkurse in den Klassen 9 und 10 besucht zu haben). Trotzdem ist der Kompromiss insgesamt sehr zu begrüßen, vor allem weil er Ruhe in die Schulen bringt, aber auch Verbänden und Eltern insbesondere von schwächer begabten Schülerinnen und Schülern entgegenkommt. Dem klugen Kommentar von Paul Munzinger sei deshalb ausdrücklich gedankt.

Der Teufel liegt aber bekanntlich im Detail beziehungsweise in der Praxis. Die Anzahl der Kinder, welche die elfte Klasse überspringen wollen, wird von Jahr zu Jahr schwanken. Das bedeutet aber hohe Flexibilität und trotzdem hinreichend jährliche Budgetstunden für den Nachmittagsunterricht in Klassen 9 und 10, selbst bei sehr geringer Schülerzahl. Das bleibt deshalb für alle Schulleitungen eine beständige Herausforderung. Deshalb ist gerade hier eine Entlastung von der Bürokratie absolut notwendig. Wichtig wäre jetzt auch, dass mit Deutsch und Mathematik die beiden verpflichtenden schriftlichen Kernfächer für das Abitur durchgehend vierstündig unterrichtet werden. Schließlich müsste man sich jetzt schon mit stärkerer Werbung wegen des steigenden Bedarfs darum kümmern, viele fähige Lehrkräfte für das "neue G 9" zu gewinnen (insbesondere Informatik und Physik). Wenn durch schlechte Rahmenbedingungen oder Unterfinanzierung keine Akzeptanz entsteht, wird auch ein neues Konzept in Bayern keinen nachhaltigen Schulfrieden stiften. Dr. Rainer Pippig, Neuried

Und das Grundschulabitur?

Dass vor Wahlen ein politischer Kniefall vor der Gymnasiallobby kommen würde, war zu erwarten. Auch wenn andere Schularten Trostpflästerchen verabreicht bekommen, wird der Run auf Gymnasien zunehmen. Der jetzt schon gravierende Mangel an Grund- und Mittelschullehrern und das deutliche Überangebot an Gymnasiallehrkräften werden durch die geplante Rückentwicklung zum G 9 auch nicht gelöst. Junge Leute werden sich weiterhin zunehmend für gymnasiale Lehrämter entscheiden, wo man mit weniger Pflichtstunden und mit mehr Aufstiegschancen auch noch viel besser bezahlt wird als Lehrkräfte im Grund- und Hauptschulbereich. Nicht alle werden gewinnen, vor allem berufstätige Eltern, denen es nicht immer recht ist, wenn durch weniger Nachmittagsunterricht ihre Kinder zunehmend unbeaufsichtigt bleiben.

Aber offensichtlich hat sich nun das Gejammere über die gymnasialen Luxusprobleme gelohnt. Größere Probleme haben allerdings Eltern und Kinder, die schon in der Grundschule ohne Rücksicht auf kindliche Entwicklungen auf einen guten Schnitt in drei Fächern in der 4. Klasse hinfiebern, um nur ja den Sprung auf eine Prestigeschule zu schaffen. Erfolgreiche Bildungsländer haben bei späterem Übertritt bessere Ergebnisse.

Angesichts des Fachkräftemangels sollten Politiker einen Run auf Gymnasien aus Prestigegründen nicht noch zusätzlich unterstützen und sich die Frage stellen, wofür wir als inzwischen kinderarmes Land immer noch unnötige Gelder in diese privilegierte Schulart stecken, die jetzt eigentlich Hauptschule heißen müsste. Ärgerlich, wenn so Steuergelder verschwendet werden, die in praktisch orientierten Schulen und Berufen fehlen, wo offensichtlich tatsächliche Notstände bestehen. Simon Kirschner, Gaimersheim

Alter Hut

Die bayerische Staatsregierung soll nicht so ein G'stell machen mit ihrer tollen Neuerung beim Gymnasium! Die Wahl zwischen acht oder neun Jahren Gymnasium ist ein uralter Hut, die hatten wir in München schon vor 50 Jahren. Damals gab es am Städtischen Luisengymnasium die Möglichkeit für besonders fleißige und begabte Schülerinnen (es war damals eine Mädchenschule), das Gymnasium in acht (statt der üblichen neun) Jahren zu absolvieren. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß das "Kurzzug". Henni Pascoe, Mühldorf

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