Bundestag:Wessen Abgeordnete?

Der Deutsche Bundestag soll das ganze Volk vertreten. Tut er das auch adäquat? Sind alle Gruppen hinreichend vertreten? Das fragten sich die Autoren des "Buch Zwei" zum Thema "Seid ihr alle da?" Leser haben noch andere Fragen dazu.

Bundestag: Der Deutsche Bundestag soll das ganze Volk vertreten. Tut er das auch adäquat? Sitze im Plenarsaal.

Der Deutsche Bundestag soll das ganze Volk vertreten. Tut er das auch adäquat? Sitze im Plenarsaal.

(Foto: imago/photothek)

"Seid ihr alle da?" vom 24./25. Februar:

Ständestaatlicher Gedanke

Die Demokratie steht und fällt mit dem Versprechen politischer Gleichheit. Je ungleicher die Beteiligungschancen in einem Land, desto weniger vertrauen die Bürger den politischen Institutionen, desto unzufriedener sind sie mit der Funktionsweise der Demokratie insgesamt. Eine wie auch immer geartete sozialstrukturelle Identität von Regierenden und Regierten im Sinne der deskriptiven Repräsentation, wie sie in oben genanntem Artikel als Ideal suggeriert wird, ist demokratietheoretisch jedoch weder notwendig noch wünschenswert. Die Demokratie des Grundgesetzes ist keine Honoratioren-, sondern eine Parteiendemokratie. Die Parteien haben den verfassungsmäßigen Auftrag, für die Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu sorgen. Sie stellen dazu politische Programme auf und treten bei Wahlen an, um ihre Kandidaten in Parlamente zu entsenden. Der Abgeordnete interessiert in diesem Prozess vor allem als Vertreter seiner Partei und Repräsentant der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse. Was zählt, sind die konkreten Politikinhalte, die er im Sinne seiner Wähler und im Wettbewerb mit konkurrierenden Parteien durchsetzen kann.

Entscheidender als die soziale Herkunft ist daher die Frage, ob die Einstellungen und Meinungen der Abgeordneten den Einstellungen und Meinungen ihrer jeweiligen Wählerschaft entsprechen. Die gegenteilige Vorstellung, die Vertretung des Volkes müsse sich entlang bestimmter regionaler und gesellschaftlicher Lebenskreise spiegelbildlich oder gar "organisch" vollziehen, ist ideengeschichtlich übrigens kein demokratischer, sondern ein ständestaatlicher Gedanke, der seit dem Vormärz zum Standardrepertoire des rechten Antiparlamentarismus in Deutschland zählt. Dr. Philipp Erbentraut, Frankfurt/Main

Existenzfrage

Ich vermisse in Ihrer Übersicht eine Statistik über den Berufsstatus der Abgeordneten: Arbeiter, Angestellte, Beamte, Selbständige, Rentner, Pensionäre. Denn dann könnte man endlich auch die wichtigen Fragen diskutieren: Wie wird man Bundestagsabgeordneter? Wer kann sich das (in den aktiven Jahren zwischen 30 und 60) leisten? Außerdem, ob man es will oder nicht, die soziale Schichtzugehörigkeit beeinflusst direkt oder indirekt die Arbeit und das Entscheidungsverhalten der Abgeordneten. Dieses Thema ist in Ihrem Artikel nur kurz angetippt worden. Dr. Gerhard Heim, Berlin

Verkrustete Denkstrukturen

Das fundamentale Problem der mangelhaften Repräsentanz des Volkes durch unser Parteien-Parlament lässt sich ganz sicher nicht dadurch beheben, indem die Sitzverteilung der im Beitrag ziemlich willkürlich ausgewählten gesellschaftlichen Gruppen entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung angepasst würden. Die so realisierte Neuverteilung hätte nämlich den gravierenden Mangel, dass alle Abgeordneten immer noch der extrem kleinen gesellschaftlichen Gruppe der Partei-Mitglieder angehörten. Eine echte Volks-Repräsentanz kann nur durch qualifizierte Losverfahren realisiert werden. Der zitierte Einwand des Politikwissenschaftlers Saalfeld, dass "... ein durch Zufall zusammengesetztes Parlament ... nicht zu kontrollieren ..." sei, zeigt nur, wie sehr wir alle in verkrusteten Denkstrukturen verhaftet sind.

Natürlich hätte ein Ad-hoc-Wechsel vom gewählten Parteien-Parlament zum gelosten Volks-Parlament wenig Aussicht auf Erfolg. Man könnte aber die Weichen in diese Richtung stellen. Zunächst über bundesweite Volksentscheide, die für eine stärkere Beteiligung des ganzen Volkes an wichtigen Entscheidungen sorgen würden. Mittelfristig wäre der Ersatz des ebenfalls parteiengesteuerten Bundesrats durch einen ausgelosten Senat denkbar.

Klar ist, dass die Zukunft der Demokratie nicht alleine in der Hand von Parteifunktionären und Berufspolitikern liegen darf. Klaus Schanz, Traunstein

Wichtiges Kriterium: Kinder

Der Deutsche Bundestag soll Vertreter des ganzen Volkes sein. Der oben genannte Artikel versucht in Bezug auf vielfältige Faktoren abzuklären, ob dieses Ziel vom neuen Bundestag erfüllt wird oder nicht. Aber, ist es für die zukünftige Gesetzgebung wirklich von Bedeutung, dass der Anteil der Homosexuellen ziemlich genau ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht? Oder wäre es für die Arbeit des Bundestags von Vorteil, wenn der Anteil der Hauptschüler 25 Mal größer wäre, als er tatsächlich ist? Das sind doch keine Faktoren, anhand derer sich feststellen lässt, ob im neuen Bundestags alle für seine Arbeit wichtigen Bevölkerungsgruppen angemessen repräsentiert sind.

Viel wichtiger wäre es beispielsweise gewesen festzustellen, wie viele Abgeordnete Kinder im "schulpflichtigen" Alter haben - sagen wir Kinder unter 25. Es ist doch diese Generation, die damit leben beziehungsweise es ausbaden muss, was in den kommenden Jahren für ausgabenwirksame Gesetze erlassen werden; ob damit die Bundesrepublik auf die sich rapide ändernde/alternde Bevölkerung vorbereitet wird oder nicht. Abgeordnete mit Kindern werden vermutlich ganz anders abstimmen als solche, die eher nur an die nächsten Wahlen denken. Jürgen Lambrecht, Icking

Vergessen

An der überaus interessanten Infografik zur Zusammensetzung des Bundestags haben mich zwei Dinge gewundert: Erstens hat die SZ Kenntnis von der sexuellen Orientierung ausnahmslos aller Abgeordneten und kann deshalb angeben, wie gut LGBT vertreten sind; zweitens findet sich keine Statistik dazu, wie gut Arme oder Menschen mit geringem Einkommen im Parlament vertreten sind. Das korreliert mit meiner Wahrnehmung: Minderheiten wird heute aus guten Gründen viel an Aufmerksamkeit zuteil. Manche Minderheiten werden aber immer noch zu oft vergessen. Andreas Kohn, München

Privilegien für Beamte

Es steht außer Frage, dass der Bundestag in keiner Weise das Volk repräsentiert, und dieser Zustand wurde auch hin und wieder hinterfragt und kritisiert, aber unternommen wurde von Seiten der Politik nie etwas. Die Ursachen für diesen Missstand liegen wie so oft in der Historie begründet. Zum ersten Deutschen Bundestag Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Abgeordneten quasi aus der Beamtenschaft rekrutiert. Der normale Bürger konnte damals nicht einfach seinen Hof oder Werkstatt verlassen, um für vier Jahre nach Berlin zu gehen. Entsprechend wurden sehr großzügige Freistellungsprivilegien für die Beamtenschaft geschaffen, die die Verschickung der Beamten ins Preußische Parlament erst möglich machten.

Heute, 160 Jahre, später hat sich an dieser Praxis wenig bis gar nichts geändert. Die Freistellungsprivilegien für Staatsbedienstete gibt es immer noch. Heute mag es den einen oder anderen geben, der die finanziellen Rücklagen und den Eifer für dieses Amt mitbringt, aber dann braucht es auch noch einen Parteiapparat, der das zulässt. Sämtliche wichtige Posten in den größeren Parteien bekleiden fast ausnahmslos freigestellte Staatsbedienstete oder Berufspolitiker (ehemalige Beamte).

Ich wage die Prognose, dass ohne Freistellungsprivilegien kaum ein Beamter in den Deutschen Bundestag gehen würde und andere sowieso nur ganz eingeschränkt. Für die Abschaffung dieser Privilegien wird sich selbstverständlich nie eine Mehrheit finden, weil die entsprechenden Politiker sich nicht am Volkswillen orientieren, sondern an ihren eigenen Machtinteressen. Josef Danneck, Regensburg

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen.

Außerdem behalten wir uns vor, Leserbriefe auch hier in der Digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und bei Süddeutsche.de zu veröffentlichen.

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