"Notruf" vom 6. März, "Macht und Ohnmacht" vom 2. März:
Der Artikel "Notruf" enthält eine erschreckende Sammlung von Fällen antisemitischer Beschimpfungen und tätlicher Bedrohungen von Juden in Deutschland. Auch nach dem Holocaust gab es in Deutschland immer einen Bodensatz von etwa 20 Prozent hart gesottener Antisemiten. Aber es gab auch ein weitreichendes Tabu, Antisemitismus öffentlich zu artikulieren. Dies ist offensichtlich unwirksam geworden. Bestürzend sind die Hilflosigkeit und Tatenlosigkeit von Justiz und Polizei angesichts dieser Entwicklung. Folgt man dem Artikel "Notruf", so sind diese Institutionen meist ebenso uninformiert wie desinteressiert beim Erkennen von Antisemitismus. Hier können nur Schulung und Präzisierung der Gesetze helfen, damit kein Oberlandesgericht mehr den Brandanschlag von Palästinensern auf eine Synagoge als "Kritik an Israel" abtun kann.
Allerdings zeigt diese horrende Fehleinschätzung auch die Vermengung der Begriffe: Antisemitismus, Hass auf Israel, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben sich zu einem schwer entwirrbaren Knäuel von Vorurteilen verbunden. Es gibt zahlreiche Vereinigungen gegen Antisemitismus, aber ihnen fehlt die Vernetzung. Hier können Antisemitismusbeauftragte helfen und gleichzeitig Anlaufstelle für die Betroffenen werden. Aber das Wichtigste ist, dass Bürger und Bürgerinnen im Alltag gegen jede antisemitische Äußerung oder Handlung Position beziehen.
Prof. Monika Richarz, Berlin
Wandlungsfähiger Mythos
Antijudaismus gibt es weltweit seit mindestens tausend Jahren, Antisemitismus seit mindestens 150 Jahren. Ohne die bedeutsamen Unterschiede zwischen religiösen Vorurteilen und einer rassistischen Ideologie zu leugnen, kann man wohl sagen, dass wir es hier mit einem sehr langlebigen und wandlungsfähigen Mythos zu tun haben, der sich mal mehr, mal weniger manifest geäußert hat, der aber nie wirklich verschwunden war. Gegen Mythen hilft, wenn überhaupt, nur Aufklärung. Aber auch wenn es uns besser als bisher gelänge, die Weitergabe falscher Gedanken einzudämmen, werden diese auch noch in hundert Jahren in irgendwelchen Köpfen weiterleben. Diese wenig hoffnungsfrohe Aussicht zu akzeptieren und damit überhaupt erst als Herausforderung anzunehmen, wäre in meinen Augen das Fundament einer wirklich nachhaltigen Strategie gegen den Antisemitismus.Axel Lehmann, München
Gefahr von links
Gefährlich ist der erst "junge" links-intellektuelle Antisemitismus, der sich bei jedem vermeintlichen oder echten Vergehen Israels mit einseitiger und maßloser Kritik zu Wort melden darf und viel schlimmere Verstöße der Gegenseite ignoriert; der Israel nach völlig anderen Maßstäben beurteilt als andere Länder (in der Region), und losgelöst von dessen prekärer geopolitischer Lage. Manche Kreise des linken Spektrums sehen sich als Fürsprecher der palästinensischen Sache, denen unter dem Deckmantel des Antizionismus (fast) alles erlaubt zu sein scheint. Es ist dieser Antisemitismus von links (nicht der von rechts), der längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und der in Deutschland erst in den Neunzigerjahren aufkam. Der importierte arabisch-muslimische Antisemitismus fällt bei ihm auf fruchtbaren Boden und stößt meist nur dann auf Kritik, wenn er terroristische Züge annimmt.
Prof. Claude Muller, Heisdorf/Luxemburg
Berechtigte Kritik an Israel
Das Problem ist die mangelnde Unterscheidung zwischen berechtigter Kritik an der Politik Israels einerseits und andererseits antisemitischen Vorurteilen, die durch die israelische Politik gegenüber den arabischen Nachbarn scheinbar bestätigt werden. Zu dieser Klärung trägt weder das Interview mit Samuel Salzborn noch die Äußerungen vieler anderer Antisemitismusforscher bei. Deshalb muss immer wieder gefragt werden, welches Ziel die neue Antisemitismusdebatte verfolgt. Will sie aufklären und antisemitische Vorurteile bekämpfen oder geht es ihr vor allem darum, Kritik an der israelischen Politik zu delegitimieren bis hin zu dem Argument: Die Politik Israels ist zwar völker- und menschenrechtswidrig, aber sie als solche öffentlich zu benennen würde den Antisemitismus befeuern und müsse deshalb unterbleiben? Auf diese Weise werden jüdische Kritiker der israelischen Politik zu Antisemiten gestempelt. Auch damit sollte sich die Antisemitismusforschung auseinandersetzen, sonst erreicht man nur das Gegenteil.
Dr. Rüdeger Baron, Röthenbach