Zukunft der Arbeit:Raus aus den Zwängen, rein in die Selbständigkeit

Ausschlafen, dafür abends länger bleiben - und zwischendrin mal ein paar Tage von unterwegs arbeiten: Junge Selbständige suchen eine Existenz abseits der klassischen Firmenstrukturen. Die Festanstellung ist nicht mehr das Maß aller Dinge, auch in Eigenregie lässt sich Geld verdienen.

Alexander Hagelüken

Sie hatte alles, was viele junge Deutsche wollen: Mit Anfang 30 eine feste Stelle, gut bezahlt. Nicht irgendwo, sondern im Architekturbüro Hans Kollhoff, das unter anderem den Backstein-Turm auf dem Potsdamer Platz baute. Sie hatte Renommee, Verantwortung und ein Jahresgehalt im höheren fünfstelligen Bereich. Samsarah Lilja tauschte das alles ein: Für eine freie Existenz. Für einen gemieteten Schreibtisch in einer ehemaligen Putzlappenfabrik. Für die Unsicherheit, ob sie nächsten Monat noch die Miete bezahlen kann.

Betahaus in Hamburg

Gibt es eine einfache Lösung für die Frage nach einem zukunftsfähigen Urheberrecht? Das Foto zeigt das Betahaus in Hamburg, ein Klub der Kreativen.

(Foto: dpa)

Wenn Samsarah Lilja ihren Umstieg von der fest angestellten Architektin zur freien Designerin schildert, bilden sich keine Sorgenfalten im Gesicht. Sie lächelt: "Ich wollte aus der Festanstellung raus". Bereitwillig zählt die Berlinerin die Vorteile ihrer unsicheren Existenz auf: Dass sie den Arbeitstag mal später anfängt, wo sie doch frühmorgens ungern am Bildschirm sitzt. Dass sie mal ein paar Tage zu Freunden fährt und trotzdem was erledigen kann, weil sie nicht mehr vom Firmen-Server abhängt.

Samsarah Lilja, von Freunden einfach Samy gerufen, wirkt wie ein Poster-Girl für die Gruppierung, die 2006 zwei Berliner Autoren mit ihrem Buchtitel tauften: Die "Digitale Boheme" soll jene im weitesten Sinne Kreativen bezeichnen, die aus moderner Technologie mit Laptop und Internet ein Freiberuflertum schöpfen - das sie auch noch besser finden als die sozialversicherte Festanstellung, jenes Wunschziel des Mehrheits-Deutschen seit mindestens 1871.

Die Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo postulierten die Digitale Boheme als Erfüllung und zugleich Ausweg für eine Generation Praktikum, die ohnehin auf immer weniger Festanstellungen rechnen kann. Wenn schon frei, dann selbstbestimmt und mit allen Vorzügen - als Programmierer, PR-Mensch, Online-Händler, Fotograf, Webdesigner, App-Entwickler oder was auch immer.

Mancher Festjob hat in Zeiten hoher Anforderungen und globaler Konkurrenz ohnehin klassische Vorteile gegenüber dem Vogelfreien eingebüßt. Bezahlter Urlaub? "Konnte ich im Architekturbüro kaum nehmen", erzählt Lilja. "Ein wirkliches Privatleben hatte ich auch nicht." Für junge Akademiker türmen sich die Wochenstunden häufig zu einer Pyramide, die jedem Tarifvertrag spottet. Eine Sackgasse für eine 33-Jährige, die vielleicht mal Familie haben möchte. Nun arbeitet sie 30 bis 80 Stunden die Woche, auch nicht wenig, aber eben eingeteilt, wie es ihr am besten passt.

Ringen mit dem gnadenlosen Markt

Mitunter ringen die jungen Akademiker dem angeblich so gnadenlosen Markt Geschäftserfolge ab, für die es in keiner etablierten Firma Stellen gab, weil dort niemand auf diese Produkte kam oder sich nicht traute, sie anzubieten. Da ist der selbsterfundene Galerist, der Kunst über das Netz verkauft. Die Band, die auf keinen Plattenkonzern wartet, sondern ihre Songs via MP3-Dateien direkt an den Zuhörer bringt. Der Technik-Nerd, dessen Servicenotizen über ein bestimmtes Smartphone genug Leser fasziniert, um Anzeigen anzuziehen. Und, skurril genug, der Statist, der so hingebungsvoll über seine Einsätze als Leiche an Drehorten bloggt, dass er immer mehr Aufträge bekommt.

Das alles kann man als Hoffnungszeichen für eine wachsende Bevölkerungsschicht verbuchen: Es gibt inzwischen 2,3 Millionen Freiberufler ohne eigene Beschäftigte, womit diese Gruppe die klassischen Selbständigen (Metzger, Handwerker) überflügelt. Man könnte manches wie den Leichendarsteller als lockere Variante auf das ewige Lied von der harten neuen Arbeitswelt hören. Im sehr grundsätzlichen Deutschland wurden Friebe/Lobo gleich sehr grundsätzlich diskutiert - und abqualifiziert.

Da verweigern Firmen Festjobs, und dann sollen unfreiwillig Freie das auch noch feiern? Für traurige Selbstausbeuter-Jobs ohne Kantinenrabatt und Weihnachtsgeld? Nur etwas mehr als 10.000 Euro im Jahr melden freie Kulturschaffende im Schnitt als Jahreseinkommen bei der Künstlersozialkasse, kaum genug zum Leben, falls sie keine anderen Einnahmen haben. So sah mancher Friebe/Lobo als nützliche Idioten des Neoliberalismus, die sich den Szeneberliner Latte Macchiato zu Kopf steigen ließen, bis sie genug steile Thesen für eine Buchauflage von inzwischen 30.000 zusammenhatten.

Das linke Wochenblatt Freitag entlockte dem Autor Peter Plöger die passende Verdammung: "Digitale Boheme ist nur ein schickes Label für das sichtbare obere Siebtel des Eisbergs. Bei den anderen sechs Siebtel sieht es zum Teil sehr bitter aus. Leute, seit Jahren selbständig und hoch qualifiziert, können sich keinen Zahnersatz leisten."

Inzwischen äußert sich Plöger differenzierter. Der Autor hat für Bücher im Hanser-Verlag über die neue Arbeitswelt vier Dutzend moderne Selbständige befragt: "Bei Friebe/Lobo kommt die Lage zu positiv rüber. Viele der Selbständigen fühlen sich von den Arbeitgebern verarscht und von den Politikern alleingelassen. Es gibt kein gutes und gerechtes Einkommen für alle." Plöger hat digitale Bohemiens getroffen, die sich keine 300 Euro Einstiegssatz für die Krankenkasse leisten können und sich deshalb illegal beim Ehepartner versichern - oder gleich auf Gesundheitsschutz verzichten.

Jonglieren mit wechselnden Auftraggebern

Verallgemeinern möchte er das aber nicht. Zahlreiche Freiberufler jonglierten erfolgreich mit wechselnden Auftraggebern. Plöger gehört selbst dazu: Er verdient sein Geld abwechselnd als Autor, Sekretär für einen Schwerbehinderten und psychologischer Berater. "Wenn man sich für mehrere Sachen interessieren kann, ist das ein Glücksfall", findet er. Plöger will auch keine Verhaltensnoten verteilen, hier arme Arbeitnehmer, dort böse Arbeitgeber. "Viele Unternehmen hängen in wirtschaftlichen Zwängen", sie könnten nicht immer Festanstellungen auf Abruf produzieren. Plöger appelliert an die Politik, bessere Bedingungen für die wachsende Zahl von neuen Selbständigen zu schaffen, etwa durch maßgeschneiderten Krankenschutz.

Mehr Sicherheit als in der Festanstellung

Eines auf jeden Fall ist klar: Bis zur Rente sicher sind feste Stellen auch nicht mehr. Friebe und Lobo argumentieren, Aufträge von mehreren Unternehmen böten häufig genauso viel oder mehr Sicherheit wie die Abhängigkeit von einem einzigen Arbeitgeber, dessen Kündigung einen abstürzen lässt. Digitale Selbständige knüpfen ein Netzwerk vieler Knoten, die vor dem Absturz bewahren sollen.

Samsarah Lilja entwirft an ihrem Laptop viel Design für einen Klinikbetreiber. Dazu betreibt sie zwei Architekturportale, produziert elegante Visitenkarten und arbeitet an Websites kleinerer Firmen. Zum Arbeitsort hat sie sich bewusst das Betahaus in Berlin-Kreuzberg erwählt, in dem es vor Netzwerkern wimmelt. Auf drei Etagen der ehemaligen Putzlappenfabrik mieten 200 Digitalos tage- oder monatsweise Schreibtische oder, wenn ihr Start-up gewachsen ist, ganze Büros.

Lilja findet hier die Struktur wie in einer Firma vor, zu Hause wären der Kühlschrank oder das Herumsurfen gefährliche Verlockungen. Beim Cappuccino in der Bar im Erdgeschoss (auf Wunsch mit Kaffee-Flatrate) lässt sich entspannen oder mit anderen Selbständigen plaudern, wie sich die Herausforderungen des Freiberuflertums meistern lassen. Und vor allem fällt immer wieder mal ein Auftrag ab, all die Software-Entwickler, Online-Verkäufer, PR-Leute oder Layouter hier schanzen sich gegenseitig Arbeit zu. "Die Samy macht das", wird sie weiterempfohlen. Die drei Ex-Unternehmensberater im dritten Stock, die mit ihrem Start-up Coffee Circle Kaffee aus Äthiopien importieren und online verkaufen, lassen sie Flyer entwerfen und die Website designen.

Sie sprühen vor Energie

Eine Studie der Deutschen Bank schätzt, dass am Ende des Jahrzehnts jeder siebte Euro Wertschöpfung durch temporäre Zusammenarbeit entstehen wird. Durch Kollaborateure wie im Betahaus, die sich untereinander vernetzen und für Auftraggeber Projekte übernehmen.

Am Ende des Arbeitstags werden die Gespräche in den Großraumbüros des Betahauses lauter, die Überlegungen zu den Vermarktungspotentialen von Social Media gleiten sanft in Erörterungen des Menüs des Libanesen zwei Straßen weiter über. Die jungen Freiberufler sprühen vor Energie. "Bei einer solchen freien Existenz ist der Glaube an einen selbst entscheidend", erklärt Samsarah Lilja. "Was kann mir passieren? Wenn es schlecht läuft mit meiner Firma, schaffe ich es zurück in ein Architekturbüro", davon ist sie überzeugt. 18.30 Uhr, viele Angestellte sind schon in den Feierabend gegangen. Samsarah Lilja bleibt noch.

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