Zukunft der Arbeit:"Die Macht der Unternehmen wird zu groß"

DIW-Chef Gert Wagner über die Ängste vor einer Rückkehr des ungezügelten Kapitalismus, die Bedeutung von Gewerkschaften und Hilfen für Langzeitarbeitslose.

Markus Balser

Gert G. Wagner, 58, ist Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Er leitete viele Jahre das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine der wichtigsten gesellschaftlichen Langzeitstudien des Landes. Wagner hält die Angst vor wachsender sozialer Unsicherheit in Deutschland für falsch, warnt aber vor einer Rückkehr des Manchester-Kapitalismus durch die Globalisierung.

Gert G. Wagner

"Der Staat muss für bessere Bildungs- und Ausbildungschancen im bildungsfernen Milieu sorgen": DIW-Chef Gert Wagner.

(Foto: DIW Berlin)

SZ: Herr Professor Wagner, der Manchester-Kapitalismus löste im 19. Jahrhundert in England beispiellose Produktivitätsfortschritte und großes Wirtschaftswachstum aus. Trotzdem verarmten viele Menschen. Was können wir heute lernen aus dem ungezügelten Anfang der Industrialisierung?

Wagner: Die industrielle Revolution brachte ja nicht nur die Fabrik und den modernen Kapitalismus hervor. Sie machte auch die Grenzen des Gewinnstrebens klar: Geht es einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer, kann das nicht von Dauer sein. Den Arbeitern, die im England des 19. Jahrhunderts in diesen ersten Fabriken arbeiteten, drohte oft der gesundheitliche Ruin. Das dauerte zum Glück nicht lange, denn sonst hätte der Kapitalismus seine eigene Grundlage ruiniert: die Arbeitskraft.

SZ: In Deutschland hat der radikale Manchester-Liberalismus nie richtig Fuß fassen können. Warum nicht?

Wagner: Die Industrialisierung begann später. Man konnte aus den Fehlern lernen. Unternehmen wie Siemens oder die Farbwerke achteten ja schon früh darauf, ihren Beschäftigten vernünftige Unterkünfte und deren Kindern Ausbildung zu bieten.

SZ: Kann ein Wirtschaftssystem, das allein auf freie, ungehinderte Entfaltung des privaten Unternehmers setzt, überhaupt gut funktionieren?

Wagner: Nein, wohl kaum. Denn die Marktmacht einzelner Unternehmen wird dann einfach zu groß. Ohne dass der Staat und Gewerkschaften Grenzen setzen, könnten auf längere Sicht wieder ähnliche Zustände ausbrechen wie in Manchester. Unternehmen sitzen oft am längeren Hebel. Das zeigt, wie wichtig die Gegengewichte sind. Gerade die Gewerkschaften spielen da eine wichtige Rolle, denn sie kennen die Nöte der Beschäftigten viel besser als der Staat.

SZ: Auch an unserem Modell gibt es Zweifel. Dass mittlerweile 1,3 Millionen Menschen neben ihrem Erwerbseinkommen Hartz IV beziehen, wird in Deutschland als Beleg dafür gewertet, dass der Manchester-Kapitalismus wieder um sich greift und Arbeitgeber Lohndrückerei betreiben. Das Rentenalter soll wieder erhöht werden. Droht der Gesellschaft ein Rückfall in vergangene Zeiten?

Wagner: Unsere DIW-Langzeitstudie, das sozio-oekonomische Panel (SOEP), zeigt, dass es den Deutschen, was ihre Arbeitssituation angeht, im Durchschnitt nicht schlechter geht, als Mitte der 80er Jahre. Es gibt keine generelle Hire-and-Fire-Mentalität. Die Betriebszugehörigkeit liegt in Westdeutschland bei zehn Jahren. Ziemlich exakt da lag sie auch schon in den 80er Jahren. Wir leben also heute in Deutschland nicht generell in einer Risikogesellschaft. Richtig ist aber auch: Es gibt einen Teil der Gesellschaft, der immer mehr vom allgemeinen Wohlstand abkoppelt ist.

"Dieses Modell kann nicht funktionieren"

SZ: Was genau meinen Sie?

Wagner: Ein Vergleich macht das deutlich: Während die Arbeitslosenquote der Uni- und FH-Absolventen seit 1975 von zwei auf vier Prozent gestiegen ist, hat sich die der Erwerbspersonen ohne Abschluss im gleichen Zeitraum vervielfacht. Sie stieg von sechs Prozent 1975 auf mehr als 25 Prozent dreißig Jahre später. Es ist diese Zweiteilung, die zum Problem wurde. Weil sich die nicht oder schlecht ausgebildeten Menschen kaum noch selbst helfen können.

SZ: Was muss der Staat tun?

Wagner: Er muss für bessere Bildungs- und Ausbildungschancen im bildungsfernen Milieu sorgen. Auch mit höheren Bildungsausgaben, die - so meine ich - mit höheren Steuern und Studiengebühren finanziert werden sollten. Das wird sich im Übrigen letztlich für alle rechnen, denn es kann verhindern, dass jahrelang Sozialtransfers gezahlt werden müssen, wenn Menschen ohne Abschluss in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutschen. Und es hilft, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

SZ: Marx und Engels hatten die Vision, eine neue, gerechtere soziale Ordnung zu schaffen. Warum hat sich auch dieser Gegenentwurf - die Produktionsmittel in die Hände der Arbeiter zu legen - nicht durchgesetzt?

Wagner: Das lag vor allem daran, dass marxistische Politiker dieses Ziel mit einer Zentralverwaltungs-Wirtschaft erreichen wollten. Dieses Modell kann aber einfach nicht funktionieren. Es überfordert die Planungsmöglichkeiten des Staates und schafft keine produktiven Anreize. Andere Formen der Mitarbeiterbeteiligung am Firmenkapital sind ja heute sehr modern und erfolgreich. Nehmen sie das Beispiel Großkanzleien, wo es um hochqualifizierte Beschäftigte geht: Dort wird Partner, wer lange und erfolgreich mitgearbeitet hat. Mitarbeiter werden also für Treue belohnt. Dadurch arbeiten sie im Sinne des Unternehmens, obwohl es auf dieser Ebene schwer ist, die individuelle Leistung zu messen und fair zu bezahlen.

SZ: Getrieben von der Globalisierung, entwickelte sich die Wirtschaft mancherorts wieder stark in Richtung Manchester-Kapitalismus. Die Arbeitsbedingungen in der IT-Branche in Asien zum Beispiel ähneln den Zuständen in Englands Fabriken des 19. Jahrhunderts. Erleben wir eine Rückkehr des Phänomens?

Wagner: Leider ja. In vielen Ländern gibt es weder wirksame Vorschriften des Staates noch Gewerkschaften, die den Schutz der Arbeitnehmer sicherstellen. Man kann nur hoffen, dass sie rasch aus den Erfahrungen der alten Industrienationen lernen und das ändern. Es gibt da ja kaum Möglichkeiten, von außen einzugreifen.

SZ: In Deutschland kommen die Gewerkschaften derweil aus der Mode. Viele verlieren Mitglieder. Warum?

Wagner: Viele Beschäftigte hatten das Gefühl, dass sie die Gewerkschaften nicht mehr brauchen und sich individuell besser selbst vertreten können. Aber das ist eine Illusion. Die Lohnentwicklung der vergangenen Jahre zeigt das sehr deutlich: Die vermeintliche individuelle Freiheit hat dazu geführt, dass für viele Beschäftigte in Deutschland die Reallöhne gesunken sind.

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