Zukunft der Arbeit:Burn-out: Der Zusammenbruch ist vorprogrammiert

Eigentlich ist Arbeiten heute sicherer und menschengerechter als je zuvor - trotzdem brechen immer mehr Beschäftigte unter der Last des Alltags zusammen. In einer Welt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten stoßen sie an ihre eigenen Grenzen - auch im Privatleben.

Alexandra Borchardt

Es sind Geschichten, wie man sie kennt. Geschichten von Menschen, deren Namen verändert oder zumindest abgekürzt sind, damit Kollegen und Chefs sie nicht identifizieren. Männer und Frauen, die eines Morgens nicht mehr aufstehen können, in der Sitzung zusammenbrechen, nächtelang wach liegen, verzweifeln an Herzrasen, Schweißausbrüchen, Übelkeit, Angstzuständen. Die plötzlich verschwinden aus dem Büroalltag, krankgeschrieben. "Burn-out", murmeln sich dann Kollegen zu, erschrocken, weil es oft die besonders Fleißigen, die besonders Fröhlichen trifft. Aber manchmal auch ein bisschen siegesgewiss wie der Läufer beim Marathon, der nicht allzu viel Mitleid haben darf mit denen, die auf der Strecke bleiben.

burn out

Nicht nur der Job kann einen Burn-out auslösen - auch das Privatleben spielt eine Rolle.

Und es sind Studien, wie man sie kennt, zum Beispiel von der Krankenkasse AOK: Jeder zehnte Fehltag am Arbeitsplatz sei 2010 mit akuter Erschöpfung und Depression begründet gewesen, meldete kürzlich deren Wissenschaftliches Institut. Im Vergleich zu 1999 sei dies ein Anstieg um 80 Prozent. Das AOK-Institut rechnet hoch, dass damit im vergangenen Jahr knapp 100.000 der 34 Millionen gesetzlich krankenversicherten Beschäftigten insgesamt mehr als 1,8 Millionen Fehltage wegen der Diagnose Burn-out krankgeschrieben waren.

Aber wie kann das sein? Objektiv betrachtet ist das Arbeiten heute sicherer, menschengerechter und verschlingt weniger Zeit als noch vor Jahrzehnten. Bis Mitte der 50er Jahre war in Deutschland die Sechs-Tage-Woche die Regel. Auch danach noch quälten in vielen Fabriken Hitze, Lärm und monotone Handgriffe die Arbeiter. Körperliche Schwerarbeit war verbreitet, Unfälle waren häufig. Bestimmungen zum Arbeitsschutz und zur Ergonomie, bedürfnisgerecht optimierte Prozesse und ausgereiftere Maschinen haben den Arbeitsplatz seitdem - Ausnahmen gibt es - zu einem angenehmeren Ort werden lassen.

Gleichzeitig sank die dort verbrachte Zeit: Nach einer Auswertung der Bundeszentrale für Politische Bildung haben sich Arbeitsstunden und Arbeitsvolumen in Deutschland seit 1970 fast jedes Jahr verringert. Leistete damals noch jeder Erwerbstätige in Westdeutschland durchschnittlich 1966 Arbeitsstunden, waren es 1991 nur noch 1559 Stunden. Im Jahr 2007 lag der Wert in Gesamtdeutschland bei 1433 Stunden.

Und nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel den rettungsbedürftigen Griechen, Spaniern und Portugiesen kürzlich nahegelegt hatte, sie sollten weniger Urlaub machen und später in Rente gehen, wurde sie belehrt: Die Deutschen arbeiten weniger als die Südländer, schaffen dabei aber mehr. So verbesserte sich die Produktivität pro Arbeitsstunde zwischen 1991 und 2007 um etwa ein Drittel.

Burn-out-Geschichten sind kein Märchen

Wie passt das zur Burn-out-Statistik? Ein Teil davon mag tatsächlich erklärbar sein mit überforderten Ärzten, denen die Diagnose bei unklaren Krankheitsbildern ganz gelegen kommt. Zudem ist um das Syndrom herum eine Art Industrie entstanden - vom Burn-out-Resort für Topverdiener bis hin zur Burn-out-Beraterin um die Ecke -, die bedient werden will. Griffen früher viele, die sich vom Leben überfordert fühlten, eher zu Alkohol oder Tabletten, müssen sie sich ihrer Erschöpfung heute nicht mehr schämen. Und schließlich ist es manchmal schon der erste Schritt zur Besserung, wenn eine gesundheitliche Störung endlich einen Titel bekommt.

Wenn der Druck zu groß wird

Trotzdem sind Burn-out-Geschichten keine Märchen. Aber die Ursachen für tiefe seelische Erschöpfung liegen nicht allein am Schreibtisch oder in der Fabrik - wenn sie auch dort besonders oft zu Tage treten. Der Zerfall von Familien und Gemeinschaften, Vereinsamung, fehlende Bindungen außerhalb der Erwerbsarbeit geben dem Job für viele Menschen eine überragende Bedeutung, ja die einzige Quelle für Lebenssinn. Läuft es dann dort nicht wie erwartet, lassen die Kräfte nach oder entwickelt sich übermäßige Konkurrenz, bricht so manch einer unter dem Druck zusammen.

Ein Rezept zum seelischen Gesundbleiben lässt sich deshalb bei den Vermögensberatern abschauen: diversifizieren. Wer neben der Arbeit Familie, Freunde und Hobbys pflegt und deren Bedeutung auch mal über die des nächsten Geschäftsabschlusses stellt, kann mit Rückschlägen in einem Bereich besser umgehen.

Auch ein zweites Rezept weist Parallelen zur guten Anlagestrategie auf: sich mal mit weniger zufriedengeben. So wie es selten ist, dass der Aktionär beim Verkauf seiner Papiere den höchsten Kurs erwischt oder der Immobilienkäufer die niedrigsten Bauzinsen, so hilft im Berufsalltag die Einsicht, dass niemand überall perfekt sein kann, und die wenigsten es bis ganz nach oben schaffen. Diese Erkenntnis ist für viele schwer zu verinnerlichen in einer Gesellschaft, in der schon Kindern suggeriert wird, dass jeder zum Superstar werden kann. Die Enttäuschung darüber, wenn das nicht klappt, kann der Seele zusetzen.

Menschen müssen Grenzen ziehen

In einem zunehmend entgrenzten Leben müssen viele Menschen zudem lernen, selbst Grenzen zu ziehen. Früher definierten sozialer Status und Rollenerwartungen das, was erreichbar war. Erwerbsarbeit und Freizeit waren strikt getrennt, Kommunikation über weite Entfernungen war teuer und damit schwierig.

Heute scheinen die Möglichkeiten in vielerlei Hinsicht unbegrenzt zu sein. Günstige Flugpreise machen Beziehungen über Tausende Kilometer hinweg führbar, der Anspruch ständiger Erreichbarkeit löst Feierabend und Urlaub auf, Multitasking ist fast schon Pflicht. Über das Internet lässt sich der vorletzte Winkel der Welt erschließen, und selbst mit Falten und zu groß geratenen Nasen muss sich niemand mehr abfinden, der ausreichend Geld zurücklegen kann.

Eine Erkenntnis, die schmerzt

Zu sagen: "Ich schaff' das nicht", bevor man zusammenbricht, ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Die Erkenntnis, dass sich die Welt auch ohne einen weiterdreht, kann schmerzen. Und sie kann befreien.

Die Ansprüche am Arbeitsplatz steigen

Am Arbeitsplatz steigen die Ansprüche auch noch in anderer Weise. Der Grund dafür sind nicht ausschließlich Arbeitgeber, die aus jedem Mitarbeiter das Mögliche herausholen wollen. Ausgerechnet das Streben nach Gerechtigkeit führt viele Beschäftigte an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Dank professioneller Personalabteilungen werden Ziele vereinbart und Leistungen messbar gemacht, damit nicht die einen die große Last und die anderen nur ein Lastlein tragen.

Wegducken geht nicht mehr. Dies allerdings stresst häufig alle: Die Leistungsträger wollen noch mehr erreichen, die Schwächeren fürchten um ihre Stellung, zumal die neue Transparenz auch zunehmend Konsequenzen hat. Ertrugen Abteilungen früher ihre besonders bequemen oder schusseligen Pappenheimer oft mit liebevoll-genervter Toleranz, werden solche Mitarbeiter heute nach Möglichkeit aussortiert. Wobei auch Unterforderung zur Erschöpfungsdepression führen kann. Wer sich nicht gebraucht und ausrangiert fühlt, verliert den Halt.

In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Burn-out vor allem als Leiden von Top-Managern oder anderen Karrieristen. Ein Grund dafür ist, dass sich der Niedergang der einstmals Starken in Reportagen so schön macht. Auch Spitzensportler oder Showstars tragen zu diesem Bild bei, weil sie häufig besonders geräuschvoll von der Bühne abtreten, wenn die chronische Erschöpfung sie packt - der Wiedereintritt in die öffentliche Sphäre wird dann gerne mit einem Buch über den Zusammenbruch inszeniert.

Risikogruppe Lehrer

In Wahrheit entwickelt sich das Krankheitsbild jedoch am häufigsten bei Berufsgruppen, die andere Menschen pflegen oder betreuen. Angestellte in der Krankenpflege, Heimleiter und Sozialpädagogen leiden am stärksten, wie das Institut der AOK ermittelt hat. Aber auch Mitarbeiter von Call-Centern, die nichts als unzufriedene Kunden betreuen, gelangen oft an ihre psychischen Grenzen. Und unter Lehrern ist die Burn-out-Quote ebenfalls hoch. Müssen doch viele in diesen Arbeitsfeldern Aufgaben übernehmen, die früher noch von der Familie gestemmt wurden. Die Häufung in den helfenden Berufen erklärt auch, warum Burn-out doppelt so oft Frauen wie Männer befällt.

Im Kampf gegen das Syndrom kommt Führungskräften eine Schlüsselrolle zu. Sie sollten ihre Mitarbeiter kennen und erkennen, wenn deren Belastung ins für sie Unerträgliche steigt. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit und hilft außerdem dem Unternehmen. Firmen müssen interessiert daran sein, engagierte Mitarbeiter zu halten. Wer erst einmal den Ruf weg hat, Arbeitskräfte zu verheizen, wird bald keine guten mehr bekommen. Es ist die Pflicht der Unternehmen, passende Führungskräfte zu finden und entsprechend zu schulen.

Burn-out im Job ist allerdings nur eine Sache. Das größte Risiko für eine Erschöpfungsdepression hat derjenige, der seinen Arbeitsplatz verliert.

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