Wissenschaft im Netz:Schluss mit dem Kulturkampf

Zwischen Heilsversprechen und Schreckensszenarien: Der Ton ist scharf im Streit um Wissenschaft im Netz. Doch es wird Zeit, die Chancen des Open Access anzuerkennen.

Johan Schloemann

Der Ton ist scharf im aktuellen Streit über kostenlos zugängliche wissenschaftliche Publikationen, also über "Open Access". Auf der einen Seite wird gegen "Heilsversprechen der bekennenden digitalen Eiferer" opponiert, die andere Seite weist "düstere Schreckensszenarien" als unbegründet zurück. An diesem Mittwoch ruft der gegenwärtige Meister solcher Szenarien, der Heidelberger Germanist Roland Reuß, zu einer öffentlichen Debatte im Frankfurter Literaturhaus.

Wissenschaft im Netz, dpa

Wissenschaft im Netz: Die älteste erhaltene Bibel-Handschrift der Welt ist nun auch online zu lesen.

(Foto: Foto: dpa)

Reuß, der seine Ablehnung digitaler Publikationen aus einem ganz speziellen Verständnis von hochgezüchteter Editionsphilologie ableitet, ist der Initiator des im April veröffentlichten "Heidelberger Appells", welcher sich in einem Abwasch gegen Open Access, gegen Google und die Schwächung von Autorenrechten überhaupt aussprach und damit die Ängste und Unterschriften von allerlei Verlegern, Romanschriftstellern und anderen mobilisiert hat, die sich vom Internet bedroht sehen.

Längst wurde seitdem dazugelernt, dass das Massendigitalisierungsprojekt von Google, Raubkopien von E-Books, belletristisches Publizieren und Open Access in den Wissenschaften ganz verschiedene Fragen sind, die nicht zusammengehören. Die Wissenschaftsorganisationen mussten erklären, dass sie mit dem illegalen Herunterladen von Büchern von Daniel Kehlmann oder Brigitte Kronauer nichts zu tun haben. Gleichwohl wird auch in der konkreteren Auseinandersetzung ausschließlich um das akademische Publizieren nicht an Leidenschaft gespart: Die Freiheit der Wissenschaft sei in Gefahr, heißt es, von einem "vergemeinschaftenden Fremdzugriff" erdrückt zu werden.

Es muss nicht alles gedruckt werden

In dieser kulturkampfartigen Lage könnte man einmal bei einer Feststellung ansetzen, der eigentlich ausnahmsweise alle Seiten zustimmen müssten: Es muss nicht alles gedruckt werden. Dieser Satz, dass nicht alles gedruckt werden müsse, ist voller Wahrheit und Tücke. Zunächst gibt er die Rezeptionshaltung nicht nur des allgemeinen, sondern auch des akademischen Publikums wieder.

Gewiss, sagt sich der Universitätsforscher, dies oder jenes ist noch nie oder zumindest nicht auf dem Stand der jüngsten Forschung beleuchtet worden, und die Erkenntnisse wenigstens einiger Wissenschaften schreiten ja unaufhörlich fort; aber dem steht umgekehrt eine Masse von wissenschaftlichen Aufsätzen gegenüber, die auch nur in einem einzigen Fachgebiet von Menschen gar nicht mehr zu bewältigen sind, weswegen die digitale Verschlagwortung und Auffindbarkeit durch Suchbegriffe gerade im Universum der Zeitschriften sehr gerne in Anspruch genommen wird.

Im Jahr 2006, so haben Bibliothekare ermittelt, sind weltweit rund 1,6 Milliarden begutachtete wissenschaftliche Artikel erschienen. Als Leser sagt sich der Akademiker: Wie soll man da noch hinterherkommen?

Während dieser Akademiker aber nun als Leser zustimmt, dass das bei aller weiterlebenden Hoffnung auf Geniestreiche und Neuentdeckungen alles ein bisschen viel geworden ist, ist er doch als Autor der Überzeugung, dass man in seinem ganz speziellen Fall eine Ausnahme machen müsse. Für ihn gilt nämlich, und dies zumal, wenn er am Anfang seiner akademischen Laufbahn steht: Es muss alles gedruckt werden. Er muss seine Publikationsliste anreichern, um im Kampf um Stellen und Drittmittel eine Chance zu haben.

Nebeneinander von Print und Online

Dies lässt sich derzeit am leichtesten durch die Teilnahme am wuchernden Konferenzwesen erreichen. Dort kann man reisend Netzwerke knüpfen, und um dem Drittmittelgeber für seine freundliche Finanzierung der Tagung einen Erfolgsbeweis zu liefern, wird, komme, was da wolle, ein Tagungsband gedruckt, nur durch Zuschüsse zwar und in kleinster Auflage sowie meistens ohne nennenswerten redaktionellen Zusammenhang, aber eben doch mit dem Resultat, dass die Teilnehmer so ihre Veröffentlichungen vermehren und sich dann gegenseitig zu weiteren Tagungen einladen. Kein Schreibtisch ohne Rollkoffer.

Kommerzielle Schonfrist

Dem Nachwuchsforscher kann man es nicht verdenken, dass er dieses System so nutzt, wie es sich entwickelt hat. Im Fall der Schwemme von Tagungsbänden aber wird unmittelbar einsichtig, dass elektronisches Publizieren ein sinnvoller Ausweg sein kann. Denn im Nebeneinander von Print und Online lässt sich der Widerstreit von "alles" und "nicht alles" auflösen zu der vermittelnd modifizierten Einsicht: Es mag ja sein, dass alles, was der Forscher für publikationswürdig hält, publiziert werden muss - in seinem und hoffentlich auch im Interesse weiterer interessierter Spezialisten -, aber es muss eben nicht alles gedruckt werden.

So haben beispielsweise die deutschen geisteswissenschaftlichen Institute im Ausland die Publikationsplattform perspektivia.net etabliert, propagiert nicht zuletzt von der Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Paris, Gudrun Gersmann, die als Vorsitzende des Unterausschusses Elektronisches Publizieren der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) den Open-Access-Kritikern entgegensteht.

Auf dieser Internetseite kann man die Beiträge zur ersten Tagung über Friedrich den Großen einsehen und herunterladen, die im Rahmen des bis 2012 laufenden Projekts "Friedrich 300" stattfand: Aufsätze über das Verhältnis des Preußenkönigs zu den Juden etwa oder zu den Naturwissenschaften. So könnte man es gut mit unzähligen Tagungsbeiträgen handhaben: zur Entlastung eines hypertroph gewordenen wissenschaftlichen Publikationswesens.

Bedrohung nur an den extremen Rändern

Während solche Texte - wie auch schnelle Rezensionen, Diskussionspapiere, Datensammlungen, Nachschlagewerke, multimediale Editionen - oft im Internet bestens aufgehoben sind oder wären, kann und sollte der Forscher natürlich nichtsdestoweniger seine gediegene Monographie oder auch Beiträge in von Verlagen sorgfältig lektorierten Sammelbänden in gedruckter Form vorlegen.

Jedenfalls in den Geisteswissenschaften wird dies weiterhin, der Reputation und den Lesern zuliebe, so gemacht werden. Und zwar auch dann, wenn diese gedruckten Werke zunehmend selbst auch in digitaler, aber eben zu bezahlender Form angeboten oder nach einer kommerziellen Schonfrist ("moving wall") in Online-Archiven, sogenannten Repositorien, bei den Wissenschaftseinrichtungen frei zugänglich werden.

Die Vielfalt des Verlagswesens muss damit noch keineswegs insgesamt bedroht sein, nur eben an ihren extremen Rändern, mithin dort, wo die Preise für Sammelbände und vor allem Zeitschriften in den letzten Jahren so exorbitant gestiegen sind, dass die Etats der Forschungsbibliotheken sie einfach nicht mehr bewältigen können. Was zu Abbestellungen führt, die wieder die Preise steigen lassen, und so weiter.

Explodierende Preise

Denn es waren diese explodierenden Preise, es waren die Oligopole vor allem der großen natur-, ingenieurs- und sozialwissenschaftlichen Verlagskonzerne, welche den Erfindungsreichtum in Sachen Open Access überhaupt maßgeblich in Gang gebracht haben. Wenn sich die Öffentlichkeit die geistigen Leistungen ihrer Wissenschaftler so maßlos teuer zurückkaufen muss, so lautete die Überlegung, warum nutzt die Wissenschaft dann nicht die neuen elektronischen Vertriebsmöglichkeiten und publiziert in eigener Verantwortung im Internet?

Die Kosten, und dies ist in der Tat ein grundlegender Wandel der Wissenschaftsöffentlichkeit, werden dabei vom Nutzer (Leser, Bibliothek) auf den Autor beziehungsweise die ihn anstellende öffentliche Institution verlagert.

Allerdings waren Einsparungen für die öffentlichen Haushalte keineswegs das einzige Motiv für das rasante Wachstum von wissenschaftlichen Online-Publikationen: Die Kommunikationsbedürfnisse der Fachöffentlichkeit selbst spielen eine ebenso große Rolle. Sonst gäbe es nicht so viele Online-Zeitschriften, die von Wissenschaftlern mit großem Engagement und oft hoher Qualität betrieben werden.

Eine Chance für Open Access

Und zwar durchaus freiwillig, nicht weil sie sich gerne von staatlichen Instanzen gängeln und in ihrer Publikationsfreiheit einschränken lassen, wie es der "Heidelberger Appell" beschwört. Um eine differenziertere Sicht auf diesen Wandel des Publizierens bemüht sich gerade ein Heft der Zeitschrift der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Gegenworte 21/2009, nicht online!).

3800 Open-Access-Fachzeitschriften weltweit

Im Übrigen hat sich gezeigt, dass solche Qualität auch bei Online-Medien Geld kostet, dass Gutachten, Unparteilichkeit, Redaktion und Lektorat auch dort hochgehalten werden müssen, wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft ein Publikationsforum annehmen soll.

"Der Wert eines wissenschaftlichen Manuskripts hängt von der Stringenz der Argumentation und Sorgfalt der Darstellung ab, nicht vom Medium an sich", sagt Gudrun Gersmann. Insofern hat der Philosoph und Open-Access-Kritiker Volker Gerhardt gewiss recht, wenn er sagt, dass "die Etats der Wissenschaft mit Sicherheit nicht ausreichen, um alles das zu finanzieren, was derzeit noch die Verlage bieten".

Und doch: Laut Directory for Open Access Journals (DOAJ) existieren heute weltweit schon 3800 Open-Access-Fachzeitschriften, das sind rund 15 Prozent aller 25000 Zeitschriften mit Peer Review, also mit geregelter Kollegenkontrolle. Es gibt im Internet das Japanese Journal of American Studies, das Michigan Journal of Business und PLoS Biology, in denen jeweils Fachleute aus aller Welt Beiträge schreiben. Letzteres Journal ist ein gutes Beispiel, wie sich längst auch im Internet neue Reputationsorte gebildet haben: PLoS Biology ist eine der renommiertesten Online-Zeitschriften, zusätzlich zur Hürde der Qualitätskontrolle müssen die Autoren inzwischen mehrere Tausend Dollar pro Artikel zahlen, um dort publizieren zu dürfen.

Man wird fortan auf das Wohl der privaten Verlage genauer achten müssen, denn sie bleiben Garanten von Qualität und Vielfalt. Aber das Schreckgespenst einer staatlich monopolisierten Publikationskultur ist völlig übertrieben. Ein Zwang, alles auf den Online-Portalen der Wissenschaftseinrichtungen zu publizieren, lässt sich überhaupt nicht durchsetzen. Da ist schon der Wunsch der Wissenschaftler vor, eine möglichst diversifizierte Publikationsliste vorweisen zu können. Geben wir also Open Access eine Chance.

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