Nach Guttenberg: Universitäten in der Krise:"Tu so, als ob du studierst"

Studium im Schnelldurchlauf, Titelsucht, vorgetäuschter Fleiß - und ein Minister, der Wissenschaft, Öffentlichkeit und Parlament belügt: Im Zeitalter von Bologna-Reform und Exzellenzinitiativen stellt sich nicht nur angesichts des Falls Guttenberg die Frage: Wozu noch Universitäten?

Johan Schloemann

Ein amtierender Bundesminister hat dreimal gelogen. Er hat zuerst die Wissenschaft, dann die Öffentlichkeit und schließlich das Parlament belogen.

Vorlesung Universität Köln

"Erkenntnis unterscheidet sich von Wissen" - vermitteln Universitäten das heute noch?

(Foto: dpa)

Dass sich das so verhält, kann man im Prinzip mittels der Vernunft verstehen, die jedem Menschen gegeben ist. Ein Hochschulstudium ist dafür keineswegs notwendig. Aber Seminare an Universitäten sind, neben anderen Orten, sehr geeignete Orte, jene Begriffsarbeit zu lernen, die es braucht, um einen Sachverhalt wie den genannten zu verstehen.

Die an Universitäten eingeübte Begriffsarbeit könnte einen in diesem Fall lehren, dass "bewusste Täuschung" ein Pleonasmus ist; dass bei einem größeren Umfang von Übernahmen in einer wissenschaftlichen Arbeit gar kein unvorsätzliches, kein "unbewusstes" Plagiat vorliegen kann, weil das Bewusstsein beim Schreiben ja mit zu der geprüften Leistung gehört; und dass sogar ein juristischer Promotionsausschuss, ja überhaupt jegliche Autorität falsch liegen kann, wenn sie ihre Begriffsarbeit nicht ordentlich macht.

Der Fall Guttenberg, der gerade aus ganz verschiedenen Gründen die Gemüter erregt, ist nicht identisch mit der Krise der Universität. Aber viele, die ein Hochschulstudium machen oder absolviert haben - derzeit studieren mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland -, fragen sich in diesen Tagen durchaus: "Wozu noch Universitäten?"

Und so lautet passenderweise auch der Titel eines leidenschaftlichen, aber durchaus um Begriffsarbeit bemühten Buches, das der Philosoph Reinhard Brandt gerade frisch veröffentlicht hat (Felix Meiner Verlag, 250 Seiten, 18,90 Euro). Brandt lehrte lange als Professor an der Universität Marburg, er ist ein angesehener Erforscher und Deuter Immanuel Kants und der Philosophie der Aufklärung, von der Ästhetik bis zum Staatsrecht.

Niveauverlust im Hörsaal

Anders als viele Professoren, die über den Zustand der deutschen Universität in Zeiten von Bologna-Reform und Exzellenzinitiativen jammern und dann nach dem Ende ihrer Lehrverpflichtungen "Nach mir die Sintflut!" rufen, will Reinhard Brandt mit 72 Jahren noch einmal grundsätzlich wissen, wohin es gerade geht mit der deutschen Universität. Er beklagt den Schnelldurchgang, die Titelsucht und den nur vorgetäuschten Fleiß bei der Durchdringung der Gegenstände - also Dinge, die der Fall Guttenberg gerade exemplarisch vor Augen führt.

Universität Köln - Bibliothek

"Tu so", schreibt Reinhardt Brandt, "als ob du Proust studierst, aber nur mit 6 angestrichenen Stellen und einer Investition von 38 Minuten."

(Foto: dpa)

"Tu so", schreibt Brandt, "als ob du Proust studierst, aber nur mit 6 angestrichenen Stellen und einer Investition von 38 Minuten." In solcher Kritik spricht nicht etwa jener streberhafte Bildungsdünkel, der stolz darauf ist oder (häufiger noch) vorgibt, den ganzen Proust und überhaupt alles Mögliche immer schon gelesen zu haben. Der Vorwurf an das Bologna-System ist ein anderer: Wenn Proust nicht gelesen wird, was durchaus vorkommen darf, dann soll man nicht behaupten, Proust werde in einem wissenschaftlichen Studium behandelt. Zu solcher Prätention neigen aber die neuen modularisierten Studiengänge.

Wie es sich für einen älteren Professor gehört, so enthält Reinhard Brandts sehr aktuelles Pamphlet auch so einige Schrullen und einige Passagen, die nach unabgeschickten Leserbriefen klingen - der Autor gehört ohne Zweifel zu denjenigen, die in Zeitungsartikeln Sätze unterstreichen. Wie es sich aber ebenso für einen Professor, einen älteren oder jüngeren, gehört, klagt Reinhard Brandt nicht bloß, sondern er bietet als Begriffsarbeiter eine zentrale These. Sie lautet: "Erkenntnis unterscheidet sich vom Wissen. (...) Wissen kann passiv absorbiert werden. (...) Erkenntnis ist dagegen eine eigene Tätigkeit."

Bildung vs. Wissensvermittlung

Die Erkenntnisarbeit, die für alle Fächer von den Biochemikern über die Anglisten bis zum Marketinglehrstuhl kennzeichnend ist oder sein müsste, grenzt Brandt einerseits vom gerade in Deutschland überfrachteten Begriff der "Bildung" ab, andererseits eben von der reinen, punktesammelnden Wissensvermittlung. "Dieses Erkenntnispathos durchzieht alle Fakultäten und macht den Kern der modernen Universität aus."

Eine These muss nicht neu sein; die Unterscheidung von Wissen und Erkenntnis geht bis auf Platon zurück. Die eigene, weiterbringende Leistung des Akademikers ist es, die These möglichst klärend auf den Gegenstand anzuwenden - hier: die deutsche Hochschulreform der letzten Jahre. Das ist gar keine so besondere Leistung, aber sie ist eben auch nicht selbstverständlich; sie muss an der Universität eingeübt werden, durch Lektüre und Schreiben, durch Hören und Argumentieren. Die Standards des Geschäfts sind eigentlich, trotz aller verwinkelten Methodenlehre, nicht sehr kompliziert; ihre Anwendung aber füllt ein ganzes Universum.

Erzwungene Provinzialisierung

Und in diesem Universum - dies ist die positive, ermutigende Seite der Intervention von Reinhard Brandt, der auch eine Geschichte und eine Verteidigung seiner geliebten Universität vorträgt-, in diesem Universum tritt bis heute noch, trotz aller postmodernen Verunsicherung, eine bestimmte Figur auf: Nämlich "die im Mittelalter unbekannte Figur des systematischen Fortschritts der Erkenntnis". Die exakten Wissenschaften finden tatsächlich immer neue Sachen heraus; aber auch die Ansicht, die weicheren Geisteswissenschaften würden sich immer nur im Kreis drehen und sich immer nur anders verkleiden, erklärt Reinhard Brandt zum Vorurteil: "Nichts Neues? Ein Gang durch die letzten Publikationen in allen Fächern der Geisteswissenschaften könnte diese Behauptung leicht widerlegen. (...) Von Niveauverlust keine Spur."

Dem Verlust aber arbeiten heute die Organisationsformen von Studium und Forschung zu. Den eingezwängten Abhak-Studien - "Wissensdressur zur Unmündigkeit", schimpft der Kantianer - entspricht die Inflation von Abschlüssen, darunter auch unzählige Status-Promotionen, die mit dürren (oder zu dicken) Fleißarbeiten nur für die Karriere außerhalb der Universität abgelegt werden. Daran sind nicht etwa nur die Billig-Doktoranden oder gar die Plagiatoren schuld, sondern auch die Fakultäten selbst; verstärkt wird das Problem durch politische Vorgaben, wonach Mittelzuweisungen und Renommee unter anderem nach Anzahl der Promotionen pro Lehrstuhl verteilt werden.

Wehmütige Erinnerungen

Auch sonst fällt Reinhard Brandts Bilanz der Hochschulpolitik in "Wozu noch Universitäten?" ernüchternd aus: Provinzialisierung statt mehr europäischen Austausch habe die Studienreform gebracht, "unwürdige Selbstanpreisung" das Drittmittel- und Exzellenzsystem, dazu "Lohndumping" in der Lehre. Die PR-Universität, welche "Medienresonanz" in Forschungsanträgen oft schon zum Ziel des Erkenntnisinteresses erklärt, die Universität berichtet in ihren eigenen Uni-Zeitungen über inneruniversitäre Bologna-Proteste und -Debatten "so wenig wie das Neue Deutschland über die Republikflucht". Wehmütig erinnert Brandt sich an einstige Selbstverständlichkeiten: "Es gehört zur akademischen Freiheit, Veranstaltungen anderer Disziplinen zu besuchen und als Physiker zu den Kunsthistorikern, als Germanist zu den Juristen zu gehen."

Und was folgert der betagte Philosoph? Er sagt: "Was tun? Partisan der Erkenntnis werden. Das Regime der Bürokratie demaskieren und schwächen, wo und wie immer es möglich ist." Ob die deutsche Universität sich, frisch entrüstet, von solchem Furor der Erkenntnis wecken lässt?

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