Überzogene Stellenanzeigen:"Man muss nicht alle Anforderungen erfüllen"

Ist ein Doktortitel ein Muss? Woran erkennen Bewerber die wichtigen Punkte in einer Stellenanzeige? Karriereberater Jürgen Nawatzki gibt Tipps - und macht Jobsuchenden Mut, sich nicht von überzogenen Anforderungen abschrecken zu lassen.

Von Jutta Pilgram

Eine Stellenanzeige ist eine Art Wunschliste des Arbeitgebers. Der Trainer Jürgen Nawatzki erklärt, warum man sie genau studieren sollte, sich aber nicht von überzogenen Erwartungen entmutigen lassen darf.

SZ: Muss man alle Anforderungen erfüllen, die eine Stellenanzeige auflistet?

Jürgen Nawatzki: Nein. Es ist zwar sinnvoll, dass der Arbeitgeber diese Anforderungen formuliert, denn sie geben Aufschluss über den Job. Doch man muss sie nicht alle erfüllen. In der Regel entspricht kein einziger Bewerber dem Ideal in der Anzeige, die eierlegende Wollmilchsau gibt es eben nicht. Man sollte daher Muss- und Kann-Anforderungen unterscheiden.

Was bedeutet das?

Eine Muss-Anforderung ist beispielsweise, wenn von einem Verkäufer von Finanzdienstleistungen kommunikative Fähigkeiten erwartet werden. Sie sind unabdingbar für seine Arbeit, während etwa ein Doktortitel, auch wenn er gewünscht wird, im Zweifelsfall nicht so wichtig ist. Das heißt: Erfüllt ein Bewerber eine Kann-Anforderung, hat er einen Pluspunkt. Wenn nicht, ist er trotzdem noch im Rennen.

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Woran erkennt man, ob etwas eine Muss- oder eine Kann-Anforderung ist?

An der Formulierung. Wenn Sie in einer Anzeige lesen: Wir erwarten verhandlungssichere Englischkenntnisse, dann sollten Sie das ernst nehmen. Die gleiche Erwartung formuliert als Kann-Anforderung würde lauten: Wünschenswert wären verhandlungssichere Englischkenntnisse. Bei Stellenanzeigen gibt es einen bestimmten Sprachcode, ähnlich wie bei Arbeitszeugnissen, nur nicht ganz so ausgeprägt.

Die meisten Bewerber haben keine Ahnung von diesen Sprachcodes.

Das mag stimmen, aber man sollte von jedem Bewerber erwarten, dass er mindestens einen Bewerbungsratgeber gründlich liest. Dann weiß er, was auf ihn zukommt.

Wie groß muss die Übereinstimmung mit dem Idealkandidaten in der Anzeige sein, um Aussichten auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch zu haben?

Es reicht, wenn man siebzig bis achtzig Prozent der Anforderungen in einer Stellenanzeige erfüllt. Darunter hat eine Bewerbung wenig Sinn. Aber es ist natürlich immer auch eine Frage des Angebots. Bei Informatikern beispielsweise, wo schon jetzt ein Fachkräftemangel herrscht, machen die Unternehmen bereits Abstriche.

Warum hängen die Firmen die Hürden so hoch und schüchtern damit potenzielle Kandidaten ein?

Sie wollen die selbstbewussten Bewerber und nicht die Selbstzweifler. Sie schrecken also bewusst ab. Doch das wird sich bald ändern. Wir steuern auf eine Zeit zu, in der gute Bewerber Mangelware sind. Da werden die Unternehmen auch auf Kandidaten zugehen müssen, die in ihren Augen nur zweite oder auch dritte Wahl sind.

Jürgen Nawatzki ist promovierter Diplom-Kaufmann und hat als Finanzberater gearbeitet. Heute lebt er als Karriereberater, Trainer und Buchautor ("Mit Selbstcoaching zum Traumjob", Verlag Springer Gabler) in Paderborn.

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