Überstunden:"Es kommt zu extremen Gesundheitsschäden"

Immer mehr Arbeit: Betriebsrats-Berater Christian Stupka klagt über steigenden Druck auf Arbeitnehmer - und rät Angestellten, sich zu wehren.

Bernd Kastner

1,5 Milliarden unbezahlte Überstunden werden etwa pro Jahr in Deutschland geleistet, das entspricht mehr als 800.000 Vollzeit-Arbeitsplätzen. Oft kämen sie durch Druck der Arbeitgeber zustande, klagt Christian Stupka. Er hat als Berater von Betriebsräten Einblick in unterschiedliche Branchen und kritisiert, dass die Beschäftigten zunehmend unter Druck gesetzt würden.

SZ: Viele Betriebe bemühen sich, über intelligente Systeme wie Kurz- oder Teilzeitarbeit ihr Stammpersonal zu halten, trotz Krise.

Christian Stupka: Das ist auch sehr zu begrüßen. Eine Kehrseite aber ist, dass die Krise andere Gruppen ausbaden müssen, vor allem Beschäftigte mit befristeten Verträgen oder Leiharbeiter. Von denen hat man sich weitgehend geräuschlos getrennt.

SZ: Heißt das, die anderen bleiben weitgehend verschont?

Stupka: Leider nicht. Viele Firmen versuchen ihre Rentabilität zu erhöhen, indem sie ihre Leute fürs gleiche Geld mehr arbeiten lassen oder diese auf einen Teil des Gehalts verzichten müssen, aber das alte Pensum erledigen. Wir erleben seit längerem ein Roll-back der Arbeitszeitverkürzungen aus den 80er und 90er Jahren. Die 40-Stunden-Woche und mehr wird wieder zum Normalfall. Oft gelingt es den Chefs, dies über sogenannte betriebliche Bündnisse durchzusetzen.

SZ: Wie wirken sich die aus?

Stupka: Bis in die 90er Jahre waren Flächentarifverträge gang und gäbe, da war dann die 35- oder 38-Stunden-Woche geregelt. Jede Stunde darüber hinaus war zuschlagpflichtig. Unter Rot-Grün und Kanzler Schröder wurden die betrieblichen Bündnisse eingeführt, die nur für die jeweilige Firma gelten, die die Flächentarifverträge durchlöchern und nach dem Motto funktionieren: keine Kündigungen, dafür aber mehr Stunden arbeiten fürs gleiche Geld.

SZ: Immerhin ein legaler Weg ...

Stupka: ... aber nur dann, wenn die Gewerkschaften zustimmen. Wenn die Vereinbarung nur zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat geschlossen wird, ist dies unzulässig, denn dieser ist gerade in der Krise extrem erpressbar. Dann ist es mindestens genauso fragwürdig wie die im Einzelhandel weit verbreitete Praktik.

SZ: Nämlich?

Stupka: Gerade im Lebensmittelbereich wird erwartet, dass man früher kommt und länger bleibt, aber nicht mehr Geld dafür kriegt. Dass man im Supermarkt rechtzeitig vor der Öffnung da ist, um etwa die Wursttheke herzurichten, wird selbstverständlich erwartet, und nach Ladenschluss kann man auch nicht sofort nach Hause. Diese Minuten aber summieren sich zu Stunden und müssten auch bezahlt werden. Oft passiert das aber nicht.

SZ: Müsste das nicht ein Betriebsrat verhindern?

Stupka: Klar, wo es einen gibt, regelt er dies durch Vereinbarungen. Das ist ja einer der Punkte, warum in vielen Ketten die Gründung von Betriebsräten massiv bekämpft wird. Dort müsste ein Angestellter selbst vor Gericht gehen, um sich zu wehren. Was natürlich kaum einer macht.

"Die bezahlten Überstunden nehmen ab, die unbezahlten steigen an"

SZ: Nehmen diese von Ihnen geschilderten Tricksereien zu in der Krise?

Stupka: Es gibt noch keine gesicherten Zahlen, aber mein Eindruck ist, dass die Angst vieler Beschäftigten vor Entlassung gewachsen ist. Unbezahlte Mehrarbeit erscheint vielen als kleineres Übel. Dennoch, es bleibt Diebstahl von Zeit.

SZ: Sind von diesem Diebstahl vor allem geringer qualifizierte Beschäftigte betroffen?

Stupka: Einen großer Teil der 1,5 Milliarden Überstunden leisten gut qualifizierte Leute in hoch angesehenen Berufen, in der Forschung und Entwicklung, im IT- oder Medienbereich. Dort breiten sich immer mehr Arbeitsverhältnisse aus, die ähnlich funktionieren wie Werkverträge: Eine Sendung, eine Software muss termingerecht fertig werden, egal wie lange dafür gearbeitet wird.

SZ: Das klingt doch einleuchtend in Branchen mit Zeitdruck.

Stupka: Das schon, wenn Phasen der Mehrarbeit und extremen Anspannung sich abwechseln mit Tagen, an denen ich auch mal früher Feierabend mache. Tatsächlich aber kommt es immer öfter zu extremen Gesundheitsschäden bei diesen Mitarbeitern. Denn diese Praxis basiert vielfach auf Arbeitsverträgen, die einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten. Es sind zwar 40 Stunden pro Woche vereinbart, aber sämtliche Überstunden sollen mit dem Gehalt pauschal abgegolten sein. Das führt oft zu 50-Stunden-Wochen, und diese Mitarbeiter stehen so unter Druck, dass die Zahl der psychisch bedingten Erkrankungen in diesen Berufen dramatisch zunimmt.

SZ: Ist die Zahl der Überstunden gestiegen seit Beginn der Krise?

Stupka: Nein, die Gesamtzahl nicht, weil es in der Krise weniger Arbeit gibt. Aber die Zusammensetzung der Mehrarbeit hat sich verändert: Die bezahlten Überstunden nehmen ab, die unbezahlten aber steigt immer mehr an. Auch das ist erklärbar, aber nicht in Ordnung.

SZ: Von illegalen Tricks der Arbeitgeber mal abgesehen: Ist es nicht verständlich, dass ein Chef in der Krise seine Leute um Entgegenkommen bittet?

Stupka: Ja, aber die Verhandlungen müssen auf gleichberechtigter Basis ablaufen, und das geht in der Regel nur mit der zuständigen Gewerkschaft. Und solche Vereinbarungen sollten befristet sein, nur während der akuten Krise eines Betriebes gelten. Nicht wenige Betriebe versuchen sich dadurch nämlich einen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerbern zu erschleichen. Aber das geht dann so aus wie im Kino, wenn in der dritten Reihe einer aufsteht, um besser sehen zu können. Nach und nach stehen alle auf. Am Ende sehen alle so gut oder schlecht wie vorher, nur dass es jetzt für alle ungemütlicher ist.

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