Überbehütete Bewerber:Wir werden das Kind schon schaukeln!

Gluckende Eltern entwickeln sich zur nationalen Bedrohung: Sie inspizieren Unis, managen Juniors Bewerbung und wollen das Gehalt gleich mitverhandeln.

M. Rolff

Frau G. will alles sehen, jetzt, wo sie schon mal da ist. Auch die Rechtshistorische Bibliothek. "Ach nö, Mama, die ist im Dachgeschoss, nur alte Schinken, und da ist es eng und stickig", protestiert die Tochter, eine blonde Jurastudentin, im Flüsterton. "Aber das ist doch alles hochinteressant", flüstert Frau G. etwas zu laut zurück und stapft entschlossen durch den großen Lesesaal der Treppe entgegen, verfolgt von irritierten Blicken lernender Studenten.

Überbehütete Bewerber: Mit Mami und Papi Karriere machen: Viele Eltern erklären das Diplom ihrer Kinder heute zur Chefsache.

Mit Mami und Papi Karriere machen: Viele Eltern erklären das Diplom ihrer Kinder heute zur Chefsache.

(Foto: Foto: iStock)

Frau G. und ihre Tochter bewegen sich in einer Gruppe von etwa 50 Personen, die an diesem kalten Samstagmorgen in das Juridicum der Universität Münster gekommen sind, um sich durch die Bibliothek führen zu lassen. Erstmals nimmt der Fachbereich am jährlichen "Elternalarm"-Wochenende teil, an dem sich die Hochschule für die Familien ihrer Studenten öffnet. Das Programm für die etwa tausend Gäste ist straff - Freitag: bunter Abend mit Ansprache des Bürgermeisters im großen Hörsaal. Sonntag: Abschiedsbrunch in der Mensa. Dazwischen: Informationsmarathon über den Campus.

Sektempfang beim Dekan

Eltern auf Patrouille in der Hochschule ihrer Kinder? Noch vor zehn Jahren wäre das undenkbar gewesen; Absolventen des deutschen Langzeitsystems waren eher Väter und Mütter gewohnt, die auch nach dem Vordiplom noch fragten: "Was studierst du denn eigentlich?"

Das hat sich gründlich geändert - wenn man hierzulande auch noch nicht so weit ist wie in Großbritannien, wo Eltern das Fach heute am liebsten gleich mitbestimmen. Britische Studienplatzbewerber können Papi oder Mami seit vergangenem Jahr per Vollmacht zum offiziellen Manager ihrer Bewerbung ernennen; zehn Prozent der künftigen Erstsemester machen von dem neuen Angebot Gebrauch. Die zentrale Zulassungsstelle reagierte mit dieser Regelung auch auf das wachsende Bedürfnis vieler Eltern, die Karrieren ihrer Kinder mitzugestalten. "Helicopter Parents" werden diese Eltern genannt - weil sie argwöhnisch über den Köpfen ihres (oft erwachsenen) Nachwuchses kreisen wie Hubschrauber im Dauereinsatz.

Universitäten haben plötzlich Elternabende im Programm

In den USA beschäftigen die Überväter und Übermütter schon lange Scharen von Soziologen und Psychologen. Vor wenigen Jahren registrierten College-Direktoren dort erste elterliche Übergriffe mit amüsiertem Stirnrunzeln. Inzwischen stellen sie fest, dass einige der belächelten "Helicopter Parents" zu "Black Hawk Parents" mutieren - benannt nach dem Kampfhubschrauber. Die Kriegsziele der Black Hawks: Studienplätze für ihre Kinder einklagen, Noten monieren oder die Kompetenz von Professoren anzweifeln.

Die Helicopter Parents, so glauben einige US-Forscher heute, haben sich zur nationalen Bedrohung entwickelt. Weil sie mit ihrem Gluckentum und Erfolgshunger die Unabhängigkeit einer ganzen Generation verhindern, wie der Pädiatrie-Professor Mel Levine von der Universität North Carolina kürzlich warnte. In Schweden oder Großbritannien gibt es ähnliche Diskussionen. So machte die englische Universität Huddersfield Schlagzeilen, weil sie einen Familienbeauftragten ernannte. Die Aufgabe: Eltern jederzeit über die Leistung ihrer Kinder aufklären.

In Deutschland beschränkten sich die "Hubschrauber-Eltern" bislang eher auf Projekte wie Lern-DVDs für Babys, Englisch für Kleinkinder oder verschärfte Nachhilfe. Doch es gibt Anzeichen, dass die Übereltern ihren Wirkungskreis erweitern: Lehrer werden immer häufiger vor Gericht gezogen, Berufsberater wundern sich über wachsende Einflussnahme. Und Universitäten wie die TU Aachen haben plötzlich Elternabende im Programm.

Auf der nächsten Seite: Wie Elternabende an der Uni funktionieren und warum es selbstverständlich ist, daran teilzunehmen.

Wir werden das Kind schon schaukeln!

Flanellhosen, Burberry-Schals und Perlohrringe

Zurück nach Münster. Dort fand der erste "Elternalarm" im Jahr 2005 statt, doch diesmal hat der Andrang alle Erwartungen übertroffen. Allein im Juridicum muss die Begrüßung durch den Dekan samt Sektempfang in einen größeren Hörsaal für 300 Gäste verlegt werden. Statt wie geplant eine Bibliotheksführung gibt es nun zwei. Mütter, Väter und sogar Großeltern haben das Gebäude in Beschlag genommen, man sieht Flanellhosen, Burberry-Schals und Perlohrringe.

Auf der Audioführung erfahren die Gäste via Headset alles über den Fachbereich. Im Gespräch mit Dozenten lassen sie sich die Fallstricke des Jurastudiums erläutern, in Sondervorlesungen lauschen sie den spannendsten Fällen der Rechtsgeschichte. Und im Lesesaal der Bibliothek saugen sie Sätze auf wie: "Hier bereiten sich Studenten gerade in Arbeitsgruppen auf eine Klausur vor" oder "Keine Scheu, nehmen Sie ruhig mal ein Buch aus dem Regal!"

Ein fröhliches Treffen für Eltern und Studenten

Auf die Frage, was ihnen so ein Programm denn bringe, ziehen viele erstaunt die Augenbrauen hoch: "Ich möchte doch einen Überblick haben. Sehen, wie meine Tochter lebt", sagt Frau L., außerdem wolle sie "Professoren kennenlernen und hören, wie der Stoff vermittelt wird".

In Zeiten von Wirtschaftskrise, Bildungsrankings und Studiengebühren, so sind sich in Münster viele Eltern mit ihren Kindern einig, sollte man die Zukunft möglichst nicht dem Zufall überlassen. "Studium und Karriere werden immer komplizierter. Die ganze Bürokratie - da brauche ich Unterstützung", sagt Jurastudentin Ann-Christin, 24. Und Robin, 18, kommentiert den Besuch seines Vaters so: "Warum nicht? Er zahlt doch auch."

Die Organisatoren des "Elternalarms" wollen ihr Programm auf keinen Fall als "Rechtfertigungsveranstaltung für Studiengebühren" verstanden wissen. Es gehe darum, Eltern und Studenten ein fröhliches Treffen zu bieten. Gleichwohl räumt man ein, dass einige - anfangs skeptische - Dekane das Orientierungswochenende inzwischen nutzen, um den Eltern klarzumachen: Unterstützen Sie Ihr Kind gut - Jura, Medizin oder Betriebswirtschaft sind schließlich kein Spaziergang.

Sportseiten für Vati und auf Kochseiten für Mutti

Um die besten Köpfe wirbt man am besten über die Eltern. Das hätten auch Unternehmen längst begriffen, sagt Tim Weitzel, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Bamberg. Er verweist auf Online-Kampagnen von deutschen Mittelständlern. Diese platzierten Stellenanzeigen gezielt auf Internetseiten, die vor allem Eltern besuchen - auf Sportseiten für Vati und auf Kochseiten für Mutti. Tenor, so Weitzel: "Bei uns hat Ihr Junge eine sichere Zukunft." Kaum drei Monate habe es gedauert, um so alle wichtigen Stellen optimal zu besetzen.

Die wachsende Bedeutung von Eltern für die Karriereplanung der Kinder sehen Experten aber auch kritisch. Die Personalberaterin Silke Heil etwa schätzt, dass Eltern inzwischen an mehr als 50 Prozent der Bewerbungen, die bei ihr über den Tisch gehen, entscheidend mitgearbeitet haben. Mütter und Väter sollten begreifen, dass das auch einen "schlechten Eindruck macht, ich würde einen so unselbständigen Bewerber ablehnen". Die frühere Headhunterin muss Eltern auch immer öfter erklären, dass ihre Anwesenheit bei Bewerbungsgesprächen unerwünscht ist.

Auf der nächsten Seite: Wie die Schere zwischen den Unterprivilegierten, um die sich keiner kümmert, und den Kindern aus der Mittel- oder Oberschicht, die immer exzessiver umsorgt werden, immer weiter auseinanderklafft.

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Ein Schnuller für die Synapsen

Heil hat beobachtet, dass "die Schere bei Uniabsolventen und Bewerbern immer weiter auseinanderklafft". Auf der einen Seite stünden die Unterprivilegierten, um die sich keiner kümmert, auf der anderen die Kinder aus Mittel- oder Oberschicht, die immer exzessiver umsorgt würden. Die einen reagierten zunehmend hilflos auf den komplizierten Arbeitsmarkt; die anderen würden zu Anspruchsdenken und Unselbständigkeit erzogen - für Berufsanfänger zwei tödliche Eigenschaften. Heil erzählt, dass die Sekretariatsdienste von Eltern sie in Beratungsgesprächen heute zu dem Standard-Tipp zwinge: "Wenn du zum Bewerbungsgespräch nicht erscheinen kannst, lass bitte nicht deine Mutter absagen!"

So haben manche Unternehmen auch bereits kapituliert. Der Computer-Riese Hewlett-Packard hat nach Medienberichten inzwischen mit Eltern zu tun, die die Gehaltsverhandlungen ihrer Kinder führen wollen. Britische PR-Agenturen berichten von Vätern, die vor dem ersten Arbeitstag ihrer Tochter auf deren Sensibilität und Harmoniebedürfnis hinweisen.

"Ich bin sehr froh, dass sich Ihr Sohn Brett entschieden hat

Und der Autovermieter Enterprise Rent-A-Car schickte schon Mütter nach Hause, die bei der ersten Arbeitswoche ihres Sohnes hospitieren wollten. Als Friedensangebot sendet Personalchefin Donna Miller neuerdings Briefe an die Eltern von Neuzugängen. Mit beruhigenden Worten: "Ich bin sehr froh, dass Ihr Sohn Brett entschieden hat, Teil unseres Teams zu werden. Ich darf Ihnen versichern, dass seine Entscheidung gut ist!"

Wer nach Ursachen für die Hysterie fragt, erhält viele Antworten. Patricia Somers, die an der Universität Austin/Texas zu den Helicopter Parents forscht, hat beobachtet, dass sie in den USA aus allen Schichten und Gehaltsklassen stammen. Oft seien es Vertreter der Baby-Boomer-Generation, die Elternliebe mit vielen Geschwistern teilten und nun alle Aufmerksamkeit auf ein oder zwei Kinder konzentrieren. Andere glauben, dass die Bildungsdebatten die Eltern kirre machen.

Beobachtet man, wie die jüngste Generation von Übereltern ihren Nachwuchs dressiert, gibt es wenig Grund zur Entwarnung. Wirtschaftsinformatiker Tim Weitzel wurde kürzlich auf einem Kindergeburtstag in San Francisco in eine "todernste" Diskussion verwickelt. Thema: Welche Schnullerform wirkt sich am besten auf die Synapsen-Vernetzung bei meinem Baby aus? "Der Trend, dass Eltern komplett durchdrehen", resümiert Weitzel trocken, "ist sehr anfassbar".

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