Thailand: Gewalt an Schulen:"Draußen bleiben ist zu gefährlich"

Brutale Bandenkriege an Thailands Berufsschulen: Seit Generationen prägt Jugendgewalt den Alltag. Jetzt wurde ein Neunjähriger im Schulbus erschossen.

Im Schatten der Tamarindenbäume stellen die Jungen ihre Kampfwunden zur Schau. Einer zeigt die Stelle, an der ein Schuss seinen Nacken gestreift hat, ein anderer die zwei Narben auf Schädel und Unterarm von einer kürzlichen Messerattacke. "Es passiert so häufig, dass wir uns daran gewöhnt haben", sagt der 18-jährige Atsadawut Taluechai. "Mir wurde ins Bein geschossen und in den Rücken gestochen."

Erziehungslager gegen Bandenkriminalitaet in Thailand

 Zwei Soldaten der Psychologie-Einheit der thailändischen Armee durchsuchen in einem Erziehungscamp für Bandenführer in Lopburi, Thailand, die Taschen eines Schülers bei dessen Ankunft nach Waffen.

(Foto: dapd)

Die Jungen sind Überlebende der Bandenkriege an Thailands Schulen. Die gewaltsamen Fehden sind dort so alltäglich, dass die Medien sie normalerweise ignorieren. Der Tod eines Neunjährigen brachte sie jetzt aber in Schlagzeilen - und ins Parlament.

Schon seit Jahren grassiert die Gewalt an Schulen in Thailand. Vor allem die 835 berufsbildenden Schulen des Landes sind betroffen, die weitestgehend auf die Kinder der Arbeiterklasse ausgerichtet sind. Nach Polizeiangaben wurden in Bangkok in der ersten Hälfte dieses Jahres rund 900 Vorfälle gemeldet. Die tatsächliche Zahl liegt aber höher, sind sich Lehrer sicher.

In vielen der 106 Handelsschulen in der Hauptstadt Bangkok werden die Schüler bei ihrer Ankunft durchsucht. Waren ihre "Waffen" in den vergangenen Jahren noch Stifte und Lineale, kommen inzwischen Macheten, selbst gebaute Bomben und billige Schusswaffen zum Einsatz.

Oft ufern die Rivalitäten zwischen berufsbildenden Schulen bis in öffentlich Busse und Einkaufszentren aus. Gangs überwachen die von rivalisierenden Schulen genutzten Buslinien. Bereits mehrfach haben sich Fahrgäste über die Gefahr beklagt, einen Bus in der Nähe einer berufsbildenden Schule zu benutzen. Ein Risiko, dass auf tragische Weise Anfang September verdeutlicht wurde, als Schüler in einem öffentlichen Bus in Bangkok das Feuer eröffneten: Vier Kugeln trafen einen neunjährigen Jungen.

Entsetzen bei den Eltern

Eltern und Lehrer reagierten entsetzt. Die Direktoren von Schulen mit besonders hohem Gewalt-Risiko wurden zweimal zu Sitzungen ins Parlament beordert. Die von der Regierung vorgeschlagene Lösung: ein Erziehungscamp für Bandenführer. Kürzlich wurden daher 105 von Bangkoks bekanntesten Unruhestiftern aufs Land nach Lopburi gefahren, um dort gemeinsam zu essen, zu beten und mit ihren Feinden zu campieren. "Es ist das erste Mal, dass wir die Schlüsselfiguren der rivalisierenden Banden zusammen führen", sagt Lerpong Watcharamai, der das Lager organisiert. "Sie sind die Schüler, die die Macht haben, den Rest zu beeinflussen."

Erziehungslager gegen Bandenkriminalitaet in Thailand

Thailändische Schüler marschieren in einem Erziehungscamp für Bandenführer über eine Wiese.

(Foto: dapd)

Die Regeln: keine Handys, keine Sonnenbrillen, keine Waffen. Alle Schüler tragen weiße T-Shirts mit dem Aufdruck "Versöhnung. Lerne zu lieben. Eintracht." Geleitet wird das Camp von sechzehn Soldaten der Psychologie-Einheit der Armee. Sie mischen Drill mit Gemeinschaftsaktivitäten wie Gesang- und Tanzeinheiten. Eine Übung stieß dabei auf größeren Widerstand: sich an den Händen zu halten und sich vor den anderen zu verbeugen. Später folgt eine Gruppenmeditation. Die meisten Schüler wirken höflich und nachdenklich.

An ein Ende der Gewalt glauben aber nur wenige. "Das Problem ist fast schon eine Tradition. Es wurde von Schülergeneration zu Schülergeneration weitergereicht", sagt der 17-jährige Issara Kummin. Seine Narben auf Schädel und Unterarm hat er sich nach eigenen Angaben im Juni zugezogen, als sich beim Verlassen des Busses 20 Kinder auf ihn stürzten. Trotzdem sieht er sich als Glückspilz: einer seiner Freunde wurde angeschossen und getötet, als er aus dem Bus stieg. "Ich will Rache", sagt er mit sanfter Stimme. "Wir werden oft als die Bösen angesehen. Doch die Leute wissen nicht, wogegen wir uns zur Wehr setzen müssen. Wenn wir nicht kämpfen, werden wir getötet."

Nach dem Tod des Neunjährigen wurde eine 16-jähriger Schüler der Bangkapi School of Technology festgenommen. "Seit 20 Jahren arbeite ich hier und nie hätte ich gedacht, dass ich so etwas zu sehen bekäme", sagt der Sportlehrer Somsak Karparyoon. Lehrer eskortieren die Schüler auf dem Weg von und hin zur nahe gelegenen Bushaltestelle. Sie suchen auch die umliegenden Straßen nach versteckten Waffen ab. Die Handelsschulen in der Gegend beenden ihren Unterricht zu anderen Zeiten als die berufsbildenden Schulen, so dass sich die Wege der Jugendlichen nicht kreuzen.

Die Busfahrt bleibt der gefährlichste Teil des Tages. "Einschlafen während der Busfahrt ist undenkbar. Viel zu gefährlich. Ich kann mich längst nicht mehr erinnern, wie oft mein Bus bereits angegriffen wurde", sagt Watcharin Khusuwan, der Automechanik in Bangkapi lernt. Khusuwan schaut auf seine Uhr. Der Unterricht ist seit einer Viertelstunde vorbei und er trägt noch seine Schuluniform. "Es tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Draußen bleiben ist zu gefährlich", sagt er.

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