Studium:Vorkenntnisse erwünscht

Wie viel sind mehrere Jahre Berufserfahrung wert? An einer typischen deutschen Uni bisher gar nichts. Das soll sich nun ändern.

Alexandra Straush

Wie viel sind mehrere Jahre Berufserfahrung wert? An einer typischen deutschen Universität bisher gar nichts. Mit praktischen oder theoretischen Vorkenntnissen, die ein Erstsemester mitbringt, wissen die Hochschulen meist nur wenig anzufangen. An der Uni Oldenburg ist das seit kurzem anders. Hier gibt es ein Verfahren zur Anrechnung informell erworbener Kompetenzen. Michael Müllmann ist der erste, der es durchlaufen hat. Der Unternehmer führt seit 1982 eine Firma, die Fahrräder und Zubehör importiert, um sie an Fachhändler zu vertreiben. Sein BWL-Studium musste er damals abbrechen, weil die Geschäfte so gut liefen, dass der Betrieb seine ganze Zeit beanspruchte. Nun will der 47-Jährige im weiterbildenden Bachelor-Studiengang "Business Administration" seine Managementkenntnisse erweitern. Dank des Oldenburger Modells muss er nicht bei null anfangen. Er spart ein Studienmodul, das die Gründung und Führung eines Unternehmens behandelt, und verkürzt so seine Studiendauer.

Studenten im Hörsaal

Studenten im Hörsaal: Bald soll es mehr beruflich Qualifizierte an den Hochschulen geben.

(Foto: Foto: dpa)

In Oldenburg wird schon praktiziert, was die Politik immer eindringlicher fordert: Das deutsche Bildungssystem soll durchlässiger werden. Nur 37 Prozent aller Schüler entscheiden sich für ein Studium, in vielen Ländern sind Quoten von 50 Prozent und mehr üblich. Das Institut der Deutschen Wirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass viele Jugendliche, die eine Lehre machen, durchaus Uni-tauglich wären. Für sie soll der Sprung an die Hochschule künftig leichter werden, dies ist ein Ziel der Qualifizierungsinitiative, die die Bundesregierung vergangene Woche beschlossen hat. So will das Bildungsministerium (BMBF) 1000 "Aufsteigerstipendien" vergeben. Sie sollen Erwachsenen zugutekommen, die ohne Abitur nach einer Ausbildung ein Studium beginnen. Die Stipendien werden sich an den Bafög-Sätzen orientieren.

Erschlagen von der Menge Arbeit

Auch die Bundesländer haben bereits Voraussetzungen geschaffen, mehr beruflich Qualifizierte an die Hochschulen zu bringen. Nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz können von 180 Leistungspunkten ("Credits"), die für ein Bachelor-Studium nötig sind, bis zu 90 aus einer bereits absolvierten Ausbildung angerechnet werden. Soweit die Theorie. In der Praxis stellt sich die Frage: Wie lassen sich die Ausbildung und Berufserfahrung eines Industriemeisters in Inhalte und Module eines Ingenieurstudiengangs übersetzen? Diesem Problem widmen sich zwölf Pilotprojekte der BMBF-Initiative "Anrechnung beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge", kurz ANKOM.

So löst die Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin das Problem: Seit vorigem Jahr haben hier fünf Erzieherinnen den Studiengang "Erziehung und Bildung im Kindesalter" belegt. Vor ihrer Einschreibung mussten sie eine Woche lang ein "Reflexionstagebuch" führen, in dem sie sich mit ihren beruflichen Fertigkeiten auseinandersetzten. Zu jedem Modul, das sie anerkennen lassen wollten, mussten sie Arbeitsbögen ausfüllen, die Inhalte und Anforderungen dem eigenen Können gegenüberstellen. Zur Überprüfung der Selbsteinschätzung wurden Gespräche geführt. "Einige waren schon erschlagen von der Menge Arbeit", sagt Pia Schnadt, die an der Hochschule für das Pilotprojekt zuständig ist. "Auf der anderen Seite war das eine gute Vorbereitung auf das theoretische Arbeiten an der Hochschule." Im Ergebnis des aufwendigen Verfahrens lassen sich 65 von insgesamt 210 Credits einsparen. Und mit dem Studienabschluss können sich die Erzieherinnen später auf die Position einer Kita-Leiterin bewerben.

Auf der nächsten Seite: Wo noch akademischer Dünkel herrscht.

Vorkenntnisse erwünscht

Bei der Anerkennung schon erworbener Fähigkeiten müssen die Hochschulen jeden Lebenslauf genau prüfen. Die ANKOM-Initiative sieht aber noch ein zweites Modell vor, nach dem sich Abschlüsse pauschal auf das Studium übertragen lassen. Die Uni Oldenburg arbeitet dafür mit den Industrie- und Handelskammern (IHK) zusammen. Ein Fach wie "Kosten- und Leistungsrechnung" aus der Fortbildung zum Industriefachwirt wird in mehrere Elemente zerlegt. Inhalte und Gewichtung der Einheiten dürfen vom Uni-Modul abweichen, aber der Gesamtwert muss stimmen. So kommt die Uni zu einem Umrechnungskurs für den Studiengang "Business Administration": Dem Industriemeister Metall oder Elektro werden 24 Leistungspunkte angerechnet, ein Industriefachwirt kann 40 verbuchen und der Industriefachwirt/Betriebswirt IHK hat gegenüber einem Abiturienten sogar 64 Punkte Vorsprung.

Umrechnungsmodelle für eine einfache betriebliche Ausbildung gibt es bisher allerdings nicht. Außerdem fehlen Studienangebote, die sich berufsbegleitend absolvieren lassen. Regina Buhr, die bei der VDI/VDE IT GmbH für die wissenschaftliche Begleitung der Pilotprojekte zuständig ist, sieht noch einige ungelöste Probleme: In den Ingenieurwissenschaften herrsche weiterhin ein gewisser akademischer Dünkel. Die Aufgeschlossenheit gegenüber beruflich erworbenen Kompetenzen sei nicht so groß wie in den Wirtschaftswissenschaften oder im Bereich Gesundheit und Soziales.

Eine Umfrage an der privaten Fachschule für Technik und Wirtschaft in Erfurt ergab, dass sich 30 Prozent der dortigen Techniker vorstellen können, an der Technischen Universität Ilmenau zu studieren. Wenn der demographische Wandel greift und die Abiturienten knapp werden, werden die Hochschulen auf diese Nachfrage reagieren, ist sich Regina Buhr sicher. Denn nichts verändere eine Organisation so schnell wie Druck von außen.

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