Studium im Ausland:Istanbuls lange Nächte

Istanbul ist vom Außenseiter unter den Erasmus-Zielen zur Trendstadt geworden: Immer mehr Gaststudenten zieht es an den Bosporus. Dort lernen sie nicht nur die Universitäten zu schätzen.

E. Kimmerle

Istanbul vibriert. Tief im Marmarameer ist etwas in Bewegung. Hier trifft die anatolische Kontinentalplatte auf die eurasische. Die Platten reiben mit ungeheurer Spannung aneinander, eine Spannung, die in Istanbul zu spüren ist. Seit Tausenden von Jahren zieht die Stadt am Bosporus Völker unterschiedlicher Kulturen an, und nun haben auch die Erasmus-Studenten Istanbul für sich entdeckt. Die Türkei trat dem europaweiten Austauschprogramm 2004 bei. Seitdem hat sich Erstaunliches getan: Istanbul ist vom Außenseiter unter den Erasmus-Zielen zur Trendstadt geworden.

Studium im Ausland: Istanbul: Die Metropole ist vom Außenseiter unter den Erasmus-Zielen zur Trendstadt geworden.

Istanbul: Die Metropole ist vom Außenseiter unter den Erasmus-Zielen zur Trendstadt geworden.

(Foto: Foto: dpa)

Reizvolle Kultur

Vor zwei Jahren sind der nationalen Erasmus-Agentur zufolge 895 Studenten aus ganz Europa nach Istanbul gekommen, mittlerweile hat sich der Zustrom verdoppelt. In Istanbul bieten 34 Universitäten Austauschplätze an. Dass kaum einer der Gaststudenten Türkisch spricht, ist kein Problem, die Kurse finden überwiegend auf Englisch statt. Und doch ist es die Kultur, die viele Neuankömmlinge reizt. "Die meisten europäischen Großstädte ähneln einander. Istanbul fordert dich heraus, hier gibt es eine Menge zu entdecken", sagt Server Agirman vom türkischen Zweig des "Erasmus Student Network" (ESN), einer europaweiten Organisation, die Austauschstudenten hilft.

In ihrer langen, 3000-jährigen Geschichte haben Griechen, Römer und Osmanen die Stadt beherrscht. Heute leben hier Türken, Kurden, Armenier, Griechen, Juden, Roma und Sinti, sie alle hinterlassen ihre Spuren. Diese Vielfalt macht Istanbul für die Austausch-Studentin Marie Nazlier aus Bochum einzigartig: "In Istanbul kannst du alles finden. Es gibt Stadtteile, in denen auf der Straße Teppiche geknüpft werden, manchmal sieht man sogar Pferdekutschen auf der Autobahn." In anderen Vierteln sieht Marie die Frauen herumlaufen wie auf einem Laufsteg in Mailand.

Chaotisch und laut

Die Türkei befindet sich im Spannungsfeld zwischen Islam und Demokratie, zwischen ihrer Tradition und ihrem Streben nach Westen, und in Istanbul treffen auf engem Raum alle Strömungen aufeinander. "Istanbul ist immer, wie man es sehen will. Es gibt dir das, was du suchst", sagt Nazlier. Die 22-Jährige studiert seit einem Jahr Philosophie an der Istanbul-Universität, der ältesten Hochschule der Türkei. An den türkischen Alltag musste sie sich erst gewöhnen. Istanbul ist chaotisch und laut.

Die Menschenmassen, der unübersichtliche Verkehr, die unbekannte Sprache sind für viele Ausländer eine Herausforderung. Doch die Aufgeschlossenheit der Istanbuler hilft, die Startschwierigkeiten zu überwinden. Schnell hat Marie Nazlier in ihrer Nachbarschaft Kontakt gefunden: "Ich war überrascht, wie offen und interessiert ich aufgenommen wurde." Mit dem Obstverkäufer um die Ecke tauscht sie sich regelmäßig bei einem Glas Cay, starkem türkischen Tee, über die Fußballergebnisse aus.

Auf der nächsten Seite: Wie das türkische Studiensystem funktioniert - und welche Attraktionen das Nachtleben bietet.

Subkultur und Kreativität

Pulsierendes Straßenleben

Aber nicht nur die geschichtsträchtige Atmosphäre und die gastfreundliche Kultur locken Studenten an den Bosporus. Istanbul ist als Erasmusstadt noch nicht so etabliert und übersättigt wie Madrid oder Paris. Hier toben noch Subkultur und Kreativität, alles ist in Bewegung, das Straßenleben pulsiert, die Nächte sind lang; 2010 wird Istanbul Kulturhauptstadt Europas. "Du erlebst den Umbruch hautnah. Istanbul rennt nach vorne. Jeden Tag wird eine neue Galerie eröffnet", sagt die Bremerin Esra Cakmakli.

Die Suche nach ihren Wurzeln hat die Tochter türkischer Eltern nach Istanbul getrieben. Wie viele Türken, die in Deutschland geboren sind, steht sie zwischen den Kulturen. Der Zwiespalt hat sich in der Türkei nicht aufgelöst, aber hier hat die 21-Jährige gelernt, ihre Identität anzunehmen: "Istanbul ist selbst so paradox. Eine Widersprüchlichkeit, die ich in mir wiederfinde."

Verschultes System

Sich bei all den Filmfestivals, Konzerten und Ausstellungen auf den Uni-Alltag zu konzentrieren, fällt der Studentin nicht immer leicht. Auch das türkische Studiensystem sei anfangs gewöhnungsbedürftig. "Es läuft alles ein bisschen unorganisiert. Man muss schon mit der türkischen Ordnung klarkommen. Dafür ist die persönliche Betreuung wirklich gut, man bekommt die volle Unterstützung", sagt sie nach einem Jahr an der Istanbul Üniversitesi.

Das türkische Bildungssystem ist verschulter als in Deutschland, Frontalunterricht die Regel. Auch bürokratische Hürden können den Erasmus-Studenten das Leben erschweren. Auf Informationen kann man sich hier oft nicht verlassen, nicht selten pilgert man von einem Verantwortlichen zum anderen. Schon die Immatrikulationsbescheinigung zu bekommen, kann Tage kosten. Doch bereut hat wohl noch kaum ein Austauschstudent die Zeit in Istanbul. "Nach einem halben Jahr in Istanbul wollen die meisten Erasmus-Studenten verlängern. Wenn es mit der Verlängerung nicht klappt, treffe ich sie früher oder später dennoch auf dem Taksim-Platz (dem zentralen Platz Istanbuls) wieder", sagt Server Agirman vom ESN.

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