Studieren in Tunesien:"In jedem Seminar saß ein Spitzel"

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Ein Diplom in der Tasche, aber keine Chance auf einen Job: In Tunesien stachelten unzufriedene Studenten eine politischen Umbruch an. Michael Fisch, Deutsch-Lektor in Tunesien, kennt die Gründe für ihren Frust.

J. Osel

Nach dem Umsturz in Tunesien blickt die junge Generation voll Hoffnung auf die Zukunft. Treibende Kraft der Proteste waren Studenten, die selbst mit akademischem Abschluss keinerlei Perspektiven erwarten können. In die Probleme des Bildungssystems hat Michael Fisch direkten Einblick. Der Germanist ist seit zwei Jahren Lektor an der Universität La Manouba in Tunis, entsendet vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gibt er dort Deutsch-Kurse und Seminare in Literatur.

Studenten in Sanaa protestieren gegen die Politik der Regierung. (Foto: Reuters)

SZ: Ein junger Akademiker ohne Perspektive hat sich selbst angezündet - der Ausgangspunkt der tunesischen Revolution. Der Protest wurde zu großen Teilen von Studenten getragen. War dies an den Hochschulen im Vorfeld zu erwarten?

Fisch: Es gab in meinem Umfeld genügend Anzeichen, dass so etwas passieren könnte. An den Universitäten hatten wir in den vergangenen Jahren bereits regelmäßig Streiks und Proteste, das war auch lange Zeit von der Führung mehr oder weniger geduldet worden. Bis zum November 2009: Damals gab es eine Aktion gegen schlechte Studien- und Wohnbedingungen und auch gegen die eingeschränkten Freiheiten, bei der vor allem Studenten meiner Fakultät dabei waren. Sie wurde auf brutale Weise von der Polizei niedergeschlagen. Es folgten Exmatrikulationen und Verhaftungen, sechs Teilnehmer saßen bis vor wenigen Tagen noch in Haft. Seit dieser Aktion herrschte Angst, es gab kaum noch Proteste. Bis die Situation explodierte, durch den im Nachhinein märtyrerhaften Tod des Studenten Mohamed Bouazizi im Dezember 2010.

SZ: Aber der Frust der Studenten im Uni-Alltag dürfte trotzdem schon immer zu spüren gewesen sein.

Fisch: Ja, immer. Meine Hochschule, die Université La Manouba, ist sozusagen stilbildend für alle 14 staatlichen Hochschulen im Land. Wir haben viele Studenten aus sehr armen Verhältnissen, überwiegend aus den ländlichen Regionen, die mit großen Hoffnungen in die Hauptstadt gekommen sind. Manche Mütter mussten ihren Schmuck verkaufen, um dem Kind das Studium zu ermöglichen. Aber: Das System lässt die jungen Leute diese Hoffnungen nicht entfalten, sie wissen schon im Studium, dass sie nach dem Abschluss kaum Arbeit finden werden. Da schwelte immer eine leicht aggressive Stimmung in der Luft, teils auch gegen Dozenten gerichtet, die natürlich nichts für die Situation konnten.

SZ: Was sind denn die größten Mängel im Bildungssystem?

Fisch: Die Grundlagen sind eigentlich gar nicht so schlecht: Tunesien gibt sieben Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Wissenschaft aus. Das Weltwirtschaftsforum sieht das Land als wettbewerbsfähigsten Staat in Afrika, der globale Entwicklungsindex ist besser als etwa in Spanien oder Italien. Und es gab Bemühungen für eine Modernisierung, hin zu neuen Berufsfeldern in Technik und Informatik, nicht mehr nur Handel und Tourismus. In den Unis hat man aber diese Entwicklungen weitgehend verschlafen. Und Hauptproblem ist die Bevölkerungsstruktur: Zwei Drittel sind zwischen 15 und 49 Jahre alt, der Altersdurchschnitt liegt bei 29. Um dem gerecht zu werden, hat man die Hochschulen geöffnet. Es sind 500.000 Studenten an staatlichen Hochschulen eingeschrieben, unter ihnen übrigens auch ein stetig wachsender Anteil an Frauen. Doch die Öffnung der Unis war eine rein quantitative Ausweitung und keine qualitative. Man ließ die jungen Menschen drei bis fünf Jahre studieren, ohne die Frage zu beantworten, was danach folgt.

SZ: Und es wartet mit einem Diplom in der Tasche keine Perspektive?

Fisch: Es gibt viel zu wenig Jobs für die Akademiker. Eigentlich wollte man freies Unternehmertum fördern und so neue Jobs schaffen. Das haben die Herrscherfamilie, die Geschäfte des Trabelsi-Clans und die Vetternwirtschaft abgewürgt. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 14,5 Prozent, es wird aber geschätzt, dass sie in Realität 30 Prozent beträgt. Man muss sich ja nur mal umschauen in den Städten: Die Cafés sind gefüllt mit Scharen junger Männer, die sich dort unfreiwillig die Zeit vertreiben.

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SZ: Waren Zensur und Bespitzelung in Forschung und Lehre bemerkbar?

Michael Fisch, DAAD-Lektor in Tunesien, kennt die Gründe für den Frust der Studenten. (Foto: N/A)

Fisch: Jeder Dozent konnte davon ausgehen, dass in seinem Seminar ein Spitzel saß. Da werden Themen wie Politik oder Sexualität besser vermieden. Für mich persönlich spielte das keine große Rolle. Sehr wohl wurden aber Buchlieferungen vom DAAD oder vom Goethe-Institut an tunesische Bibliotheken regelmäßig konfisziert. Ich musste einige Male bei den Behörden vorsprechen und erläutern, warum dieses oder jenes Buch für die tunesischen Akademiker sinnvoll ist. Andererseits wurden zum Beispiel die freizügigen Romane von Michel Houellebecq frei verkauft. Wichtig ist das Internet: Facebook und andere Seiten waren zwar immer wieder gesperrt, aber der Dynamik der neuen Medien ist mit Zensur schlecht beizukommen.

SZ: Welches Bild haben junge Tunesier von Deutschland?

Fisch: Es gibt seit 45 Jahren ein deutsch-tunesisches Kulturabkommen, die Sprache genießt daher einen besonderen Schutz, und wir bauen das auch stetig aus. 45.000 tunesische Schüler lernen in den Gymnasien Deutsch. Im Wettbewerb mit Spanisch oder Italienisch liegt Deutsch vorn - in der Gunst auf Rang vier hinter Arabisch, Englisch und Französisch. Deutschland hat bei den Tunesiern ein ausgezeichnetes Image, kein Wunder, dass sich viele wünschen, hier zu arbeiten.

Die Abschlüsse sind auch zum großen Teil zu denen des Bologna-Raums äquivalent. Doch es fehlt die Internationalisierung des Studiums. 1500 Tunesier studieren in Deutschland, fünf Deutsche in Tunesien. Die Ausländer, die nach Tunesien zum Studium kommen, stammen zum Großteil aus Afrika, wo die Bedingungen leider noch schlechter sind.

SZ: Als der Umsturz begann, waren Sie in Europa auf einer Konferenz und sind dann vorerst in Berlin geblieben. Kommende Woche wollen Sie nach Tunis zurückkehren. Mit welcher Erwartung?

Fisch: Über Facebook und Skype stehe ich in Kontakt mit tunesischen Freunden, Kollegen und meinen Studenten, da spüre ich, wie die Menschen nun voller Hoffnung sind. Sie sprechen von einem unglaublichen Glück, von einem völlig neuen Gemeinschaftsgefühl. Ob es tatsächlich ein Demokratiemodell geben wird, kann man kaum prophetisch sagen. Aber ich wünsche der jungen Generation, dass sie bei den Veränderungen ebenfalls berücksichtigt wird.

© SZ vom 24.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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