Stress im Urlaub:Lasst Ameisen über eure Beine krabbeln

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Nichtstun fällt vielen Menschen heute schwer. (Foto: Andreas Haertle - Fotolia)

Wir arbeiten nach Tarifvertrag exakt siebeneinhalb Stunden am Tag und haben ein Recht auf bezahlten Urlaub. Deutschland hat einen Zeitwohlstand erreicht, den es so noch nie gab. Trotzdem stressen wir uns in der Freizeit. Ein Plädoyer fürs Seele-Baumeln-Lassen.

Von Matthias Drobinski

Nichts los hier, gar nichts. Die Berliner und Brandenburger haben noch gerade so Schulferien, die Bayern und Baden-Württemberger haben sie eben bekommen. In den Innenstädten und Büros gähnt die Leere, Telefonate landen im Nirwana, die Handwerker sind ausgewandert. Der Bundestag hat sich in die Pause verabschiedet, der Wahlkampf schleppt sich dahin wie ein müdes Pferd. Die Autobahnen in den Süden kriegen Thrombose, die Seen tragen einen Film aus Sonnenmilch, auf den Wiesen warten Ameisen, Mücken und Zecken. Und der Mensch liegt vermehrt auf dem Rücken und guckt in den Himmel.

An diesem Wochenende muss man Deutschland lieben. Das Land nimmt eine Auszeit.

Es ist ein Land, das einen Zeitwohlstand erreicht hat, den es so noch nie gegeben hat. Wer heute 40 Jahre alt ist, kann davon ausgehen, dass er unter normalen Umständen mindestens noch einmal 40 Jahre lebt - seinem Vorfahr aus dem Mittelalter fielen schon mit 45 die letzten Zähne aus.

Heute fahren 80-Jährige mit dem Auto um die Welt

Auch die Qualität der Lebenszeit ist gestiegen. Vor fünfzig Jahren waren Menschen mit 60 Jahren müdegelebt, heute fahren 80-Jährige mit ihrem Auto um die Welt. Tarifverträge regeln den Siebeneinhalb-Stunden-Arbeitstag und garantieren bezahlten Urlaub. Staubsauger, Wasch- und Spülmaschine sparen Zeit und Kraft; E-Mail und SMS haben Brief und Postkarte ersetzt, man kann auf dem Sofa sitzen und im Internet shoppen. Das Mittelmeer ist drei abenteuerlose Flugstunden entfernt.

Nichts also sollte so leicht zu nehmen sein wie eine Auszeit.

Die Leute aber machen selbst an diesem blauen Wochenende etwas anderes: Sie klagen über Zeitnot. Sie fühlen sich gehetzt, bedrängt und ausgebrannt, als säße im Büro unterm Schreibtisch und daheim hinterm Fernseher einer jener grauen Zeitdiebe, die Michael Ende in seiner Zeit-Parabel "Momo" erfunden hat.

"Tempo ist eine Sache der Gewohnheit", hat der Zeitforscher Karlheinz Geißler geschrieben - die Bewohner der elektrifizierten Gesellschaften hätten sich an die Vorteile der Beschleunigung genauso gewöhnt wie an die Nachteile, Opfer und Probleme. Ja: Auch ein Unglück mit 76 Toten wird nicht zum Ende der Hochgeschwindigkeitszüge führen, die Empörung über den Datenklau diverser Geheimdienste nicht der Tod des bequemen Internetshoppings sein. Es ist aber doch das Unbehagen gewachsen an der allgemeinen Zeitnot, an der Verdichtung des Lebenslaufs.

Übergewicht der Zeitökonomie

Das Unbehagen speist sich aus einem Ungleichgewicht; es entsteht aus dem Übergewicht der Zeitökonomie gegenüber der Zeitökologie. Die Vorstellung, dass die vorhandene Zeit effizient, also ökonomisch sinnvoll, zu nutzen sei, ist einer der Motoren der Menschheitsgeschichte. Die Römer bauten ihr Weltreich darauf auf, der Heilige Benedikt verordnete seinen Mönchen einen bis ins Kleinste geregelten Tagesablauf, auf dass sie die knappe Zeit vorm Tod zum Beten und Arbeiten nutzten. Den Reformatoren war die Zeitverschwendung genauso eine Sünde wie den frühen Kapitalisten und ihrem schärfsten Kritiker, Karl Marx; die Auszeit diente zur Wiederherstellung der alten Arbeitskraft und war Ausdruck des menschlichen Ungenügens, mehr nicht.

Es gab aber immer auch das Wissen um den Wert der Zeitverschwendung, der ungenutzten und unverzweckten Zeit: Steinzeitmenschen ritzten Bilder an die Höhlendecke statt zu schlafen, zu essen oder zu jagen. Der Gott Israels verordnete seinem Volk den Sabbat und das Sabbatjahr; nach sechs Jahren sollte ein Acker ruhen, und was dort von alleine wuchs, war für die Armen da.

Das Leben braucht Unterbrechung, das wussten die mittelalterlichen Bettelmönche und die frühneuzeitlichen Abenteurer ebenso wie die Aussteiger des 20. und 21. Jahrhunderts.

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Ausgerechnet jetzt aber, wo so viel Zeit da ist wie nie, hat es die Unterbrechung schwer gegen die Ökonomisierung der Zeit. Die greift auch auf die Freiräume des Lebens über: Wer im Urlaub faulenzt, macht sich verdächtig; das Laptop im Ferienhaus gilt als Beleg für die eigene Unersetzlichkeit. Der Arbeitsstress kann problemlos mit Freizeitstress gesteigert werden - an die Stelle der Unterbrechung tritt dann die Ablenkung.

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Und wer ein Sabbatjahr nimmt, ohne ein Buch zu schreiben oder die Alpen zur Fuß zu überqueren, macht etwas falsch. Überhaupt bieten inzwischen zwar je nach Zählung zwölf bis 15 Prozent der Unternehmen Sabbatjahr-Modelle an, aber nur fünf bis sechs Prozent der Mitarbeiter nutzen sie.

Der Primat der Zeiteffizienz lässt vor allem die kollektiv verbrachte Zeit abnehmen - ein guter Teil der Zeitnot ist der Mangel an gemeinsam verbrachter Zeit. Weil sich die komplizierten Zeitabläufe der vielfachverdichteten Existenzen schwer aneinander anpassen lassen, verbringen die Leute ihre freie Zeit häufig alleine. Auch deshalb muss man dieses Wochenende lieben: Die Auszeit ist kollektiv, der Stau ist dafür hinzunehmen.

Nur, wer geht, kann verändert wiederkommen

Es ändert sich ja auch was. Die Zahl der Sabbaticals steigt; immer mehr Chefs begreifen, dass nur, wer geht, verändert wiederkommen kann. Die Zahl der Väter nimmt zu, die Elternzeit beantragen und sich dann tatsächlich um ihre Kinder kümmern, weil sie merken, dass Beziehungszeit die wichtigste Zeit im Leben ist; Paare wünschen, die Erwerbs-, Beziehungs- und Erziehungszeiten des Lebens fair zu teilen - was immer dann in der Praxis aus diesem Wunsch werden wird.

Es wächst das Bewusstsein dafür, dass es eine Ökologie der Zeit gibt, dass man mit ihr haushalten und schonend umgehen muss. Diese Ökologie ist auch ökonomisch sinnvoll. Sie vermeidet, dass Menschen zu ausgebrannten Einzelwesen werden. Und sie hilft, Beschleunigungsfallen zu umgehen. Die gibt es in der Computer- und IT-Branche, wo zunehmend Neuerungen überholt sind, bevor sie sich rechnen; die gibt es in der Politik, wo der - tatsächliche oder behauptete - Zeitdruck überhastete Entscheidungen hervorbringt.

Die Ökologie der Zeit ist mit Kosten verbunden. Zeit ist tatsächlich Geld, und Zeitwohlstand ist in den reichen westlichen Gesellschaften ein Luxus, der erworben, erarbeitet, bezahlt werden muss. Um an diesem Sommerwochenende nichts zu tun, außer auf dem Rücken liegend in den Himmel zu schauen und die Ameisen übers Bein krabbeln zu lassen, muss man sich nur mal am Riemen reißen.

Wer aber die Arbeitszeit verkürzt oder ein Jahr aussteigt, muss sich das schon leisten können, braucht ein gutes Gehalt oder die Bereitschaft zum Verzicht - und Chefs, die ihn dafür nicht auf die "Underperformer"-Liste setzen. Und wer als Politiker für den arbeitsfeien Sonntag als kollektive Auszeit vom Alltag eintritt, kriegt Prügel vom Handel wie von den Verbrauchern. Die Mühe und den Ärger jedoch ist es wert.

Jetzt aber erst einmal: Auszeit!

© SZ vom 03.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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