Kellnerin über ihren Alltag:Soziologische Fallstudien im Wirtshaus

Kellnerin über ihren Alltag: Wer "Are you finished? No, we are from Norway" von Sophie Seidel gelesen hat, wird als Gast vielleicht mehr Verständnis für Servicekräfte haben.

Wer "Are you finished? No, we are from Norway" von Sophie Seidel gelesen hat, wird als Gast vielleicht mehr Verständnis für Servicekräfte haben.

(Foto: Robert Haas)

Die meisten Kellner seien sich darüber im Klaren, dass sie von vielen Menschen "pauschal für Hohlköpfe" gehalten werden, sagt Ranka Keser. Unter einem Pseudonym hat sie sich ihre Beobachtungen als Bedienung von der Seele geschrieben.

Von Andreas Schubert

Was bestellt sich Woody Allen in einer bayerischen Wirtschaft? Was sind die dümmsten Fragen, die Gäste stellen? Wie viel Trinkgeld geben Russen im Vergleich zu Amerikanern oder Japanern? Und wie reagiert man eigentlich, wenn man als Bedienung im Lokal einem Bekannten mit dessen heimlicher Affäre begegnet? Sophie Seidel weiß es: Vier Jahre lang hat die 49-Jährige als Kellnerin in einem bayerischen Wirtshaus in der Münchner Innenstadt gearbeitet. Und in diesen vier Jahren hat sie so viele absurde, komische, ärgerliche aber auch schöne Situationen erlebt, dass sie sich dazu entschlossen hat, ein Buch darüber zu schreiben.

"Are you finished? No, we are from Norway - Eine Kellnerin am Rande des Wahnsinns" heißt das 271 Seiten lange Sachbuch, das am 20. April beim Blanvalet-Verlag erschienen ist. Es ist ein unterhaltsamer Bericht aus dem Alltag in einem typischen Innenstadtlokal, in dem sich Einheimische genauso treffen wie viele Touristen. "Bräufassl" nennt die Autorin das Wirtshaus, das in Wirklichkeit anders heißt - genauso wie Sophie Seidel selbst. Die gebürtige Kroatin heißt eigentlich Ranka Keser, lebt in München und schreibt seit 20 Jahren Bücher. Neun Romane hat sie seither veröffentlicht, darunter fünf Jugendbücher und einen Krimi unter ihrem richtigen Namen, drei Frauenromane unter dem Pseudonym Nelly Arnold (ein vierter erscheint im August), diverse Kurzgeschichten und nun den Sachbericht als Bedienung Sophie Seidel - ein Name, der ganz gut zu einem bayerischen Wirtshaus passt.

"Ich hätte auch 500 Seiten schreiben können."

Die Bücher laufen nicht schlecht, wie die Autorin beim Treffen in einem - natürlich - bayerischen Wirtshaus in der Innenstadt erzählt. Den Ort hat sie selbst vorgeschlagen, weil er ganz gut zum Thema passe. Sophie Seidel isst eine Weißwurst, trinkt eine Apfelschorle dazu und erzählt nebenbei, dass sie schon immer gerne geschrieben habe und dass sie nach wie vor als Bedienung jobbe, in einem Wirtshaus in Berg am Laim. Zwei bis dreimal pro Woche bedient sie noch, jeweils acht Stunden am Tag, obwohl sie den Knochenjob gar nicht mehr nötig hätte. Denn was früher ein Broterwerb war, ist heute eher Hobby. "Ich mache das sehr gerne", sagt Sophie Seidel. "Irgendwann war ich in der Straßenbahn auf dem Weg ins Restaurant und hab' gedacht, ich freu' mich auf die Arbeit", erzählt sie. Nach wie vor sieht sie sich als beides - als Autorin wie als professionelle Bedienung. "Ich könnte mir gar keinen anderen Job vorstellen, am Computer zu sitzen und in der Gastronomie zu arbeiten, ist für mich der ideale Kontrast."

Dem entsprechend widmet sie einige Seiten ihres Buches der Erklärung, wieso ihr der Job Spaß macht, auch wenn das Image der Kellnerei offenbar nicht das allerbeste ist. "Jede Kellnerin und jeder Kellner ist sich im Klaren darüber, dass uns viele Leute generell und pauschal für Hohlköpfe halten", heißt es in einer Passage des Buches. "Das ist nun mal so, ob uns das gefällt oder nicht." Der Status, der mit einer bestimmten Profession einhergeht, ist vielen Menschen wichtig, das hat Sophie Seidel, die nie Abitur gemacht und auch schon an der Supermarktkasse und in einer Bäckerei gejobbt hat, auch bei so manchen Gesprächen mit Gästen im Restaurant oder mit Bekannten mitbekommen. Da war zum Beispiel dieser Autorenkollege, den Seidel in einem Schriftstellerkreis kennengelernt hat und der die Nase rümpft, als er erfährt, dass einer ihrer Freunde Müllfahrer ist. "Diese Bekanntschaft hat sich irgendwie verlaufen", schreibt Seidel. Der Kollege habe ihre Welt nicht verstanden.

Auf der Wies'n arbeiten? - Nein, "zu viel Gegröle".

Ihre Welt, das ist die echte Welt, in der sehr viele verschiedene Menschen vorkommen. Und dieser Umstand, der Eindruck entsteht beim Lesen des Buches, mag so wertvoll sein wie manche soziologische oder psychologische Feldstudie. Gäste, die wegen jeder Kleinigkeit ausflippen, Gäste, die sich benehmen, als gehöre ihnen die Welt und die dann kein Trinkgeld geben, oder Gäste, die sich partout nicht entscheiden können, was sie bestellen sollen. Aber natürlich begegnet man im Berufsleben auch so manchem schrägen Kollegen oder Chef. Auf die Frage, was sie denn in ihrer jahrelangen Tätigkeit als Bedienung gelernt habe, muss Seidel nicht lange überlegen. "Man lernt, auf Leute einzugehen", sagt sie. Wichtig sei es, bei Gästen, die es auf einen Konflikt anlegen, Ruhe zu bewahren und höflich zu bleiben. Auf der Wiesn würde sie trotz ihrer Erfahrung nicht arbeiten wollen. "Das ist mir zu viel Stress, dieses Gegröle", sagt sie mit ruhiger Stimme.

Wer "Are you finished? No, we are from Norway" gelesen hat, wird als Gast vielleicht mehr Verständnis für Servicekräfte haben und ein bisschen gelassener reagieren, wenn er mal ein bisschen länger warten muss oder ein Tisch nicht ideal ist. Und vielleicht gibt es irgendwann ja mal eine Fortsetzung. "Ich hatte so viel Stoff", erzählt Seidel, "ich hätte auch 500 Seiten schreiben können."

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