Sitzenbleiben in der Schule:Die Klassenfrage

Sitzenbleiber kosten das Schulsystem jährlich eine Milliarde Euro. Zudem zeigen Studien, dass Wiederholer nicht einmal ihre Leistung steigern. Trotzdem halten Lehrer an der Sanktion fest.

Tanjev Schultz

Die Deutschen sind ein Volk von Sitzenbleibern. Jahr für Jahr müssen fast eine Viertelmillion Schüler die Klasse wiederholen, auch viele Politiker und Prominente haben in der Schule eine sogenannte Ehrenrunde gedreht: Edmund Stoiber und Christian Wulff, Jürgen Fliege und Harald Schmidt.

Sitzenbleiben in der Schule: Büffeln gegen das Sitzenbleiben: Wenn Kinder eine Klasse wiederholen müssen, fühlen sie sich oft strafversetzt und einsam.

Büffeln gegen das Sitzenbleiben: Wenn Kinder eine Klasse wiederholen müssen, fühlen sie sich oft strafversetzt und einsam.

(Foto: Foto: dpa)

Manch einen hat das Sitzenbleiben vielleicht stärker gemacht, andere hat es deprimiert. Sie habe sich strafversetzt und einsam gefühlt, erinnert sich die Schauspielerin Iris Berben. Die Angst vor dem "backenbleiben", wie es die Norddeutschen nennen, hat Generationen von Schülern geprägt, vielen sogar die Lebensfreude geraubt: "Och, lütt Hein mag nich mehr lewen, he is wedder backen blewen", dichtete Hermann Claudius zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Kosten von fast einer Milliarde Euro

Hundert Jahre später wachsen die Zweifel, ob das Sitzenbleiben überhaupt sinnvoll ist. Eine neue Studie des Essener Bildungsökonomen Klaus Klemm kommt zu dem Ergebnis: Klassenwiederholungen sind "teuer und unwirksam". Dem Staat entstünden Kosten von fast einer Milliarde Euro (931 Millionen im Schuljahr 2007/08). Bayern, Berlin, Thüringen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen geben besonders viel Geld für Sitzenbleiber aus.

Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat Klemm erstmals genau berechnet, wie Sitzenbleiber den Etat belasten. Seine Studie berücksichtigt die unterschiedlichen Methoden der Länder, Lehrerstellen zuzuweisen. Mehrausgaben entstehen dann, wenn die Zahl der Lehrer an die Zahl der Schüler gekoppelt ist. Mehr Sitzenbleiber heißt ja: mehr Schüler auf der Schule. Und das heißt dann auch: mehr Lehrer. Ein Einzelner fiele kaum ins Gewicht, in der Masse aber kosten Sitzenbleiber viel Geld, weil sie alle ein Jahr länger den "Service Schule" in Anspruch nehmen.

Intensive Nachhilfe

Die Kosten wären zu verschmerzen, wenn die Effekte stimmten. Aber dafür gibt es keine Belege, im Gegenteil. Klassenwiederholungen führten bei den sitzengebliebenen Schülern nicht zu einer Verbesserung, schreibt Klemm. Etliche Studien zeigten auch, dass die meisten Wiederholer ihre Leistungen langfristig nicht steigern. Schüler, die trotz vergleichbarer Defizite versetzt werden, entwickelten sich besser.

Jörg Dräger, im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung verantwortlich für Bildungspolitik, fordert eine frühzeitige Förderung: "Die Milliarde, die das Sitzenbleiben jährlich kostet, könnte besser investiert werden." Wiederholer sollten eine Ausnahme sein, bei langwierigen Erkrankungen zum Beispiel, sagt Dräger.

In mehreren Ländern dringen mittlerweile auch die Kultusminister darauf, das Sitzenbleiben zu vermeiden. Im schwarz-grün regierten Hamburg sollen Eltern von Grundschülern extra einen Antrag stellen, wenn ihr Kind eine Klasse wiederholen soll. Und in den weiterführenden Schulen soll eine "verpflichtende Teilnahme an Fördermaßnahmen" das Sitzenbleiben weitgehend überflüssig machen. Geplant ist nicht nur intensive Nachhilfe in einzelnen Fächern, sondern ein "fächerübergreifendes Lerncoaching".

Auf der nächsten Seite: Warum sich die meisten Lehrer scheuen, auf das Sanktionsmittel Sitzenbleiben zu verzichten.

Die Schmach des Sitzenbleibens

Zwischen Frustration und Ansporn

Eine ähnliche Strategie verfolgt Nordrhein-Westfalen, dort will Schulministerin Barbara Sommer (CDU) - die selbst eine Klasse wiederholte - in 800 Schulen erproben, wie man aufs Sitzenbleiben verzichten kann. Im vergangenen Jahr schloss Sommer einen entsprechenden Pakt mit den Lehrerverbänden; seitdem sei die Quote der Sitzenbleiber um 15 Prozent gesunken.Im rot-rot regierten Berlin soll es das Sitzenbleiben an Gemeinschaftsschulen gar nicht mehr geben, auch die anderen Schulen können beantragen, darauf zu verzichten.

Noch aber scheuen sich die meisten Lehrer, dieses Sanktionsmittel ganz aus der Hand zu geben. Viele Pädagogen befürchten, dass sich undisziplinierte Schüler endgültig hängenlassen, wenn sie keinen Druck mehr verspüren, weil ihnen die Schmach des Sitzenbleibens selbst dann erspart bleibt, wenn sie sich überhaupt nicht mehr anstrengen. "Manche brauchen einen Warnschuss", sagt Josef Kraus, der Präsident des konservativen Deutschen Lehrerverbands.

Mehr Fleiß

Er hält das Problem des Sitzenbleibens auch in seiner quantitativen Dimension für "maßlos überschätzt". Sicher gebe es Jugendliche, die mit ein wenig mehr Fleiß das Sitzenbleiben noch abwenden könnten. Doch für Schüler, die gleich in fünf oder mehr Fächern mangelhafte Leistungen bringen, wäre auch eine reguläre Versetzung "total frustrierend", sagt Kraus.

Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) sagt, das Sitzenbleiben ganz abzuschaffen, sei "wenig sinnvoll". Habe ein Schüler zu große Lücken, könne ein Wiederholer-Jahr nötig sein. Aber auch Spaenle will die Zahl senken, erste Erfolge sieht er bereits. In Bayern ist die Quote der Pflichtwiederholer an Realschulen von 4,8 Prozent im Jahr 2000/01 auf nun drei Prozent gesunken, an Gymnasien von 3,1 auf 1,7 Prozent. Die Werte klingen niedrig - bezogen auf die gesamte Schullaufbahn ist das Risiko, sitzenzubleiben, aber noch immer hoch. Der Experte Klaus Klemm verweist auf Daten aus der Pisa-Studie: Mehr als jeder fünfte 15-Jährige hat demnach schon einmal eine Klasse wiederholen müssen.

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