Sicher zum Abitur - trotz ADHS:"Formel-1-Wagen mit Fahrradreifen"

Sie können nicht still sitzen, driften mit den Gedanken ab oder rufen ständig dazwischen. Schüler mit ADHS-Diagnose gelten häufig als Sonderlinge oder Störenfriede, die in normalen Schulen scheitern. Ein Gymnasium in Esslingen will sie gezielt zum Abitur zu bringen. Die Methoden der Lehrer haben Erfolg.

Agnes Steinbauer

Sie können nicht still sitzen und nerven ihre Lehrer mit ständigen Zwischenrufen - oder sie sind "Träumer", die mit ihren Gedanken oft abdriften. Für Kinder und Jugendliche mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADS oder, verbunden mit Hyperaktivität, ADHS, ist eine normale Schullaufbahn schwierig. Das private Gymnasium Esslingen in Baden-Württemberg dagegen will diese Kinder zum Abitur führen. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung.

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Eine Schule in Esslingen bringt Schüler mit ADHS-Diagnose zum Abitur.

(Foto: dpa)

Auf den ersten Blick geht es zu wie an anderen Schulen: Kinder rufen durcheinander, es wird gelacht, es gibt Rangeleien, Aufgaben werden ausgetauscht - bis es auf den Gängen still wird und sich die Klassenzimmer schließen. Im Unterricht ist dann nicht mehr zu übersehen, dass hier etwas anders läuft: Höchstens 15 Schüler sitzen in einer Klasse. Jeder hat seinen eigenen Tisch, die Wände sind kahl, "reizarm", wie es hier heißt. In den unteren Klassen steht manchmal eine Stellwand zwischen den Tischen, um Ablenkungen zu verhindern.

In der sechsten Klasse schirmt eine Wand Nico und Lukas voneinander ab (Namen aller Schüler geändert). Im Biologieunterricht werden heute Amphibien behandelt. "Sauerstoff, das ist Brennstoff für die Muskeln. Ohne den könnten sich Lebewesen gar nicht bewegen", sagt Nico. Lurche und Molche interessieren den Elfjährigen. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, hört der Lehrerin Christa Sebold aufmerksam zu, kritzelt aber immer wieder in seinem Heft herum. Manchmal murmelt er vor sich hin, springt auf und ruft etwas in die Klasse - meistens die richtige Antwort, aber auch Gedanken zu anderen Themen.

Ähnlich lebhaft äußern sich andere Schüler. Die Lehrerin verbessert und lobt die Antworten. Nach einem weiteren Zwischenruf aus der letzten Reihe ist es Zeit, durchzugreifen: "Nico, jetzt nimmst bitte dein Buch, gehst vor die Tür und liest das Kapitel über den Feuersalamander alleine durch und kommst zurück, wenn du dich beruhigt hast", sagt sie freundlich, aber energisch im breiten Schwäbisch.

Fast alle 85 Schüler des Gymnasiums gelten als "schwere Fälle"; in regulären Schulen sind sie gestrauchelt. Fast alle nehmen Medikamente. Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts wird bei fast fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen ADHS diagnostiziert, bei Jungen häufiger. Kritiker halten ADHS für eine Modediagnose, durch die Schüler stigmatisiert werden, wenn sie sich nicht dem üblichen Takt fügen. Andere halten die Konzentrationsschwäche für eine Erkrankung, die ihre Ursachen auch in genetischer Veranlagung habe.

Über seine Schüler sagt der Esslinger Schulleiter Thomas Dahm: "Sie sind wie ein hochmotorisierter Formel-1-Wagen mit Fahrradreifen." Dass Lernerfolge dennoch möglich sind, daran glauben und arbeiten die Lehrer hier gemeinsam mit den Eltern. Ihre Pädagogik beruht auf den Erfahrungen aus einer "Notschule": einer Elterninitiative, die Privatunterricht für angeblich unbeschulbare Kinder organisierte, bevor vor drei Jahren das private Gymnasium gegründet wurde.

Ruheoasen zum "Hirn-Durchlüften"

Wichtigste Prinzipien: kleine Klassen, klare Strukturen, kleine Lernschritte, intensive Betreuung durch ein sozialpädagogisches Team und Lehrer, die sich mit ADHS auskennen. An der Schule gibt es "Ruheoasen" und das "Hirn-Durchlüften": Schüler dürfen sich dann eine kurze Auszeit vom Unterricht nehmen, Sofaecken und Tischtennisplatten stehen bereit.

Landung im sozialen Abseits

Für das Institut "IDeA" in Frankfurt ist das Esslinger Projekt zur "Laborschule" geworden. Das Institut beruht auf einer Kooperation der Universität Frankfurt mit dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Ein Team der Psychologie-Professorin Caterina Gawrilow hat kürzlich eine Studie zur Selbstregulation von Kindern mit ADHS erstellt. Grundlage waren "Wenn-dann-Pläne". Anhand selbstgewählter Ziele - zum Beispiel "Ich will mich im Unterricht nicht mehr so oft ablenken lassen" - sollten die Schüler lernen, sich zu zügeln.

Eine Gruppe bekam nur Ziele, eine andere die Verknüpfung mit "Plänen", etwa: "Wenn mich das Zappeln überkommt, drücke ich beide Fäuste gegeneinander und zähle bis fünf." Die Reaktionen wurden dokumentiert, das Ergebnis steht noch aus. Eine Tendenz gebe es aber: Die Gruppe mit der "Wenn-dann-Verknüpfung" zeige weniger ADHS-Symptome als die andere Gruppe.

Hyperaktive Schüler landen häufig im sozialen Abseits. Mit ihrer Impulsivität gehen sie ihrer Umwelt schnell auf die Nerven, bei Lehrern gelten sie als Störenfriede und bei Mitschülern als unberechenbare Sonderlinge, von denen man sich lieber fernhält.

"Ich bin immer irgendwo rumgehüpft"

Johannes, der nächstes Jahr zum ersten Abitur-Jahrgang des Gymnasiums gehören wird, musste in der fünften Klasse die Realschule verlassen. "Ich bin immer irgendwo rumgehüpft, habe rumgezappelt, hatte Streit mit Lehrern und Klassenkameraden, habe meine Hausaufgaben nicht auf die Reihe bekommen, alles war ein einziges Chaos", erinnert sich der 18-Jährige. Die neue Schule habe ihn beruhigt und unterstützt. Sein Lebens- und Lerngefühl habe sich grundlegend geändert - so weitgehend, dass er bereits den externen Realschulabschluss geschafft hat und in den Ferien die Medikamente weglassen kann.

Es ist schön, dass man hier die Sachen bekommt, die man braucht", sagt ein anderer Schüler. Der Sechstklässler rechnet gern und liebt es, Metallkreisel zusammenzubauen. In seiner alten Schule wurde ihm das zum Hindernis. Doch in dem Esslinger Gymnasium ist Basteln nicht verboten. Die "Bastler" und "Kritzler" dürfen im Unterricht ihrem Hobby nachgehen, wenn es nicht überhand nimmt.

Am wichtigsten: Geduld

"Alles war ein einziges Chaos"

Ein Unterrichtsprinzip ist, die Konzentrationsfähigkeit der Kinder zu trainieren. Das gehe am besten im "fragenbasierten" Frontalunterricht, sagt der Mathe- und Physiklehrer Timo Rademer. "Maßstab 1:100.000 - was bedeutet das denn eigentlich?", fragt er die Sechstklässler im Mathematikunterricht. Mit vielen Fragen versucht er, die Schüler gedanklich bei der Stange zu halten.

Auch fächerübergreifender Unterricht - hier Geographie und Mathematik - wird bewusst eingesetzt. ADHS-Kinder bräuchten mehr Verknüpfungen als andere, sagt Rademer. Klare Ansagen und eine möglichst präzise Aufgabenstellung seien sehr wichtig; außerdem das Dosieren des Lernstoffs - und Geduld. "Viele Schüler können nicht sofort richtig antworten", sagt der Lehrer. Kündige man aber an, dass ein Schüler gleich aufgerufen werde, kämen gute Antworten.

Die Schule legt großen Wert auf feste Strukturen. Dazu gehört ein disziplinierter Tagesablauf, Unterstützung bei den Hausaufgaben, die nachmittags in der Schule erledigt werden, und Hilfe, Ordnung bei den Arbeitsmaterialien zu halten. Das sozialpädagogische Team ist eine wichtige Stütze. "Nicht geschimpft ist schon gelobt, reicht bei diesen Kindern nicht", sagt die Psychologin Filka Kuszmierz. Denn viele Schüler kämen schon mit angeknackstem Selbstbewusstsein aus anderen Schulen.

Balanceakt Finanzierung

Das private Gymnasium in Esslingen rechnet damit, im kommenden Jahr staatlich anerkannt zu werden. Bisher sei die Finanzierung ein Balanceakt gewesen; das monatliche Schulgeld von 357 Euro für jedes Kind decke den Bedarf bei weitem nicht. Bürgschaften von Eltern und Lehrern, Spenden und ein Verzicht auf Lohnerhöhungen machen den Schulbetrieb trotzdem möglich. "Wir sind als Privatschule kein elitärer Verein", sagt Schulleiter Dahm. Er sieht seine Schule eher als "Solidargemeinschaft".

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