Sexualpädagogik in der Schule:Verroht - und verunsichert

Sie wissen viel über Sex, aber wenig über Liebe: Für Jugendliche gehört Pornographie zum Alltag. Einsichten zu übersexualisierten Schulklassen, hilflosen Lehrer und panischen Eltern.

J. Bönisch

Früher haben sie auf dem Schulhof geraucht. Dann hatte Lehrerin Anne Biermann (Name von der Redaktion geändert) damit zu tun, Prügeleien zu verhindern. Später kam das Problem mit den Alkopops in den Pausen hinzu, die die Schüler noch aggressiver machten.

Sexualpädagogik in der Schule: Ein junges Mädchen kauft Kondome: Pornokonsumierende Jugendliche sind der Ansicht, für seinen Sexualpartner müsse man keine Gefühle hegen.

Ein junges Mädchen kauft Kondome: Pornokonsumierende Jugendliche sind der Ansicht, für seinen Sexualpartner müsse man keine Gefühle hegen.

(Foto: Foto: ddp)

Trotzdem war dies alles harmlos im Vergleich zu dem, womit sich die Hauptschullehrerin heute beschäftigen muss. Schon vier mal hat sie Handys konfisziert, auf denen sich eine Gruppe Schüler Pornos angesehen hatte - richtige Pornos. Keine halbnackten Frauen, deren Slip immer tiefer rutschte, je leerer der Akku wurde. Sondern solche, die in der Videothek unter der Rubrik Hardcore zu finden wären, in denen Frauen mit mehreren Männern schlafen, geschlagen und bespuckt werden oder sogar Pferde eine Rolle spielen.

Auch im Unterricht hat die 58-Jährige Veränderungen bemerkt. "Die Jugendlichen reden anders über Sex. Viel respektloser. Die Sprache verroht, Jungs machen abfällige und sehr verletzende Bemerkungen über Mädchen und Frauen", erzählt sie. "Früher waren sie auch nicht immer nett zueinander, aber heute drehen sich die Sprüche viel öfter um diese Themen."

Frauen als willige Objekte

Auch andere Lehrer berichten von diesem Problem, längst interessieren sich die Medien dafür und haben die zehn- bis 16-Jährigen mit dem Aufmerksamkeit heischenden Schlagwort "Generation Porno" belegt: Da wachsen offenbar - so wird suggeriert - ganze Jahrgänge heran, die Sex von Liebe trennen, Frauen als willige Objekte betrachten und Beziehungen auf den körperlichen Akt reduzieren.

Doch gibt es diese Generation Porno überhaupt - und sind Schulen und Lehrer ausreichend auf sie vorbereitet? Schließlich sind sie es, die im Unterricht die sexualpädagogische Erziehung übernehmen und offener mit den Jugendlichen über Sex sprechen als viele Eltern. Denn welcher pubertierende 14-Jährige hört schon gern von seiner Mutter, worauf er beim ersten Mal achten sollte und wie er ein Kondom zu benutzen hat?

Zweifelsohne kommen angesichts der aktuellen Entwicklungen auf Lehrer neue Herausforderungen zu, denn der Zugang zu pornographischen Inhalten ist für Jugendliche heute leichter denn je. Der Zutritt in Erwachsenenabteilungen der Videotheken war vor zehn, 15 Jahren schlicht unmöglich. Also blieb neugierigen Kindern nur die Möglichkeit, die Videofilme oder Zeitschriften der Eltern zu klauen.

Der nächste Porno ist nur wenige Klicks entfernt

Heute dagegen ist dank des Internets der nächste Porno nur wenige Klicks entfernt: So gaben in einer Studie der Universität Koblenz-Landau, für die 1352 Schüler zwischen elf und 18 Jahren befragt wurden, 60 Prozent der Befragten an, schon einmal mit pornographischen Inhalten im Internet konfrontiert gewesen zu sein.

Und laut der Untersuchung "Jugend, Information, (Multi-)Media (JIM)" des Medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest ist 84 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren, die ein Handy besitzen, bekannt, dass darüber "gewalthaltige oder pornographische Bilder und Filme verschickt werden". 30 Prozent geben an, dass Freunde und Bekannte schon solche Filme erhalten haben, sieben Prozent haben sie schon einmal selbst geschickt bekommen.

Auf der nächsten Seite: Ist die Vagina schön oder der Penis zu klein? Wie Pornos das Körpergefühl der Jugendlichen beeinflussen.

"Woran merke ich, ob ein Junge mich wirklich liebt?"

Generation Porno als Medienhysterie

Sexualpädagogik in der Schule: Junge Mütter: Sexualerziehung konzentriert sich auf die Schülerinnen - um Teenagerschwangerschaften zu verhindern.

Junge Mütter: Sexualerziehung konzentriert sich auf die Schülerinnen - um Teenagerschwangerschaften zu verhindern.

(Foto: Foto: dpa)

Doch über die Auswirkungen des Phänomens streiten sich die Experten. So gibt es zwar durchaus Studien, die den Zusammenhang von häufigem Pornokonsum von Jungen und der Ansicht, es sei in Ordnung, ein Mädchen zum Sex zu zwingen, belegen. Wieder andere Arbeiten zeigen, dass pornokonsumierende Jugendliche der Ansicht sind, für seinen Sexualpartner müsse man keine romantischen Gefühle hegen. Doch all diesen Untersuchungen ist gemein, dass sie eine wesentliche Frage nicht klären können: Suchen die Jungen und Mädchen nach Pornographie, weil sie diese Einstellungen bereits vorher hatten, oder kommen sie umgekehrt aufgrund der Filme zu diesen Ansichten?

Schönheitsoperierte Vaginen

Fragt man Sexualpädagogen, die in ihrer Arbeit tagtäglich mit pubertierenden Jugendlichen zu tun haben, ist für sie das Gerede von der Generation Porno zum Teil Medienhysterie. "Natürlich bekommen Jugendliche heute ganz andere Sachen zu Gesicht als noch vor 20 Jahren", sagt etwa Gisela Gille. "Doch die Mädchen stellen mir seit Jahren immer wieder die gleichen Fragen." Die Gynäkologin begleitet in Schulklassen Mädchen beim Sexualkundeunterricht: Am häufigsten muss sie dabei Fragen nach Schwangerschaft, Babys und Schmerzen bei der Geburt beantworten - und den Schülerinnen immer wieder eines erklären: "Woran merke ich, ob ein Junge mich wirklich liebt?"

Auch die Sexualpädagogin Uta Baldauf von pro familia bestätigt, dass Pornos kein Mädchen-Thema sind. "Sie bekommen das mit über die Jungen, aber die meisten finden die Filme eher abstoßend." Dennoch haben die Clips eine erschreckende Wirkung auf die Mädchen: "Sie beschäftigen sich plötzlich mit dem Aussehen ihrer Vagina - weil die in den Clips dank Intimrasur oft deutlich zu sehen und sogar schönheitsoperiert sind." So muss die Sexualpädagogin seit ein, zwei Jahren plötzlich Fragen nach heraushängenden Schamlippen und der Klitorisvorhaut beantworten.

Angeberei, Spaß und das Gefühl, dazuzugehören

Auch die Jungen sind offenbar von der Anatomie der Pornodarsteller eingeschüchtert: Baldaufs Kollege Dominik Mantey, der Jungengruppen betreut, bekommt - anonym - immer wieder Fragen über Penisgrößen gestellt. "Trotzdem ist das Gerede von der Generation Porno verfehlt", sagt er. "So einen großen Stellenwert nehmen die Filme nicht ein." Zwar schauen sie viele Jungen an, doch ginge es ihnen neben der Selbstbefriedigung viel mehr um Angeberei, Spaß und das Gefühl, dazuzugehören. "Die meisten Jungen können sehr gut unterscheiden zwischen der Realität und dem, was ihnen da vorgeführt wird."

Dennoch glauben die drei Experten übereinstimmend, dass von Lehrern viel zu viel erwartet wird, was die Sexualkunde in der Schule angeht: Viele Eltern sind froh, wenn sie sich nicht selbst mit der erwachenden Lust ihres Nachwuchses beschäftigen müssen und delegieren diese Aufgabe äußerst dankbar an die Schule. Doch auch Lehrer sind auf die Frage, ob sie denn schon einmal Analverkehr gehabt haben, nur äußerst schlecht vorbereitet.

Auf der nächsten Seite: Warum Jungen in der Sexualerziehung vernachlässigt werden, selbst Lehrer zu wenig über den weiblichen Körper wissen und Sexualkunde deshalb oft nur die Vermittlung anatomischen Basiswissens ist.

Die Frau - das unbekannte Wesen

Lehrer mit Wissenslücken

Zwar haben die deutschen Kultusminister schon im Jahr 1968 beschlossen, flächendeckend Sexualerziehung einzuführen - dennoch wurde bis heute meist versäumt, den Lehrern zu sagen, wie sie den entsprechenden Unterricht durchzuführen haben. "Die Biologie-Lehrer beschränken sich meist aufs Anatomische", hat der Sexualwissenschaftler Norbert Kluge beobachtet. "Und selbst da gibt es manchmal gehörige Defizite."

Der emeritierte Universitätsprofessor hat an der Universität Koblenz-Landau angehenden Lehrern Seminare zum Thema Sexualunterricht angeboten. Darin bereiteten die Studenten gemeinsam eine Unterrichtsstunde vor - und die Studentinnen waren oftmals geschockt, wie wenig ihre männlichen Kommilitonen über den weiblichen Körper wussten.

Dieses Phänomen führt der Sexualwissenschaftler auch darauf zurück, dass Jungen in der Sexualerziehung generell vernachlässigt würden - was sich eben später in solchen Wissenslücken zeige. "Die Aufklärung konzentriert sich sehr stark auf Mädchen, um Teenagerschwangerschaften zu verhindern", erklärt Kluge. "Zudem ist in vielen Familien die Mutter für die Aufklärung zuständig, so dass die männliche Seite zu kurz kommt."

Zurückhaltende Väter

Um den Anforderungen der pubertierenden Jungen gerecht zu werden, die ihre Sexualität entdecken und auch mit Pornos in Kontakt kommen, müssten die Väter viel stärker in die familiäre Sexualerziehung eingebunden werden. Außerdem, so fordert er, sollen Schulen fächerübergreifende Konzepte erarbeiten und Jungen auch bei solchen Themen einbeziehen, die bislang klassischerweise ausführlich mit Mädchen besprochen würden - etwa Schwangerschaftsabbrüche.

"Zu diesem Thema etwa gehören nicht nur die körperlichen Aspekte, sondern genauso Informationen über Beratungsangebote, rechtliche und ethische Aspekte, Stellungnahmen der Parteien und der Kirchen und eine Diskussion über die Rolle von Mann und Frau", sagt Kluge. "Schule müsste also neben Biologie auch die Fächer Sozialkunde, Ethik und Religion einbeziehen. Doch das ist leider viel zu selten der Fall."

Auch die Lehrerin Anne Biermann fühlt sich im Biologieunterricht ziemlich alleingelassen. Kollegen anderer Fächer winken müde ab, sobald sie diese um Unterstützung bei der Unterrichtseinheit Sexualkunde bittet. Und viel mehr als anatomische Basisfunktionen kann sie allein nicht vermitteln: "Wie Monatsblutung und Eisprung funktionieren, kann ich erklären - auch, dass vieles, was in Pornos vorkommt, keine gängige Sexualpraktik ist. Aber wenn Siebtklässler denken, es ist normal, ein Mädchen zum Geschlechtsverkehr mit einer ganzen Clique zu zwingen, kommen meine Informationen schon zu spät."

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