Selektionsdruck in der Schule:Die Adligen aus der 1a

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Zwischen Grundschule und Abitur entsteht eine Generation, die die Psychopharmaka-Industrie am Leben erhält: Nie zuvor waren Schüler so labil, nie zuvor war die Angst zu versagen so groß.

G. Matzig

Verantwortung

Der erste Schultag: Glückliche Kinder, die nichts wissen von Bildungsreformen und der Furcht ihrer Eltern, sich womöglich für das falsche System entschieden zu haben. (Foto: Foto: ddp)

Die Grundschule an der Gebelestraße 2 in München hat uns vor ein paar Tagen eine Benachrichtigung zukommen lassen. "Die Schülerin Matzig, Marie", heißt es darin, "geboren am: 02.05.1999, wurde heute aus der 4. Jahrgangsstufe abgemeldet." Dann kommt ein Nachsatz, der uns Eltern nachdenklich macht: "Verantwortlich für den Schulbesuch sind: Matzig, Katharina und Matzig, Gerhard." Vier Jahre Grundschule, vier Jahre staatliches Schulsystem, vier Jahre Zittern und Bangen und Hoffen auf den Übertritt ins Gymnasium, vier Jahre Hausarbeit und Vokabelkasten und Elternstammtisch und Mittagsbetreuung und Aufwecken, Broteschmieren, Hinbringen und Abholen. Und wir sind die Verantwortlichen. Es wird Zeit, sich zu fragen, ob wir dieser Verantwortung gerecht werden konnten. Und vielleicht auch Zeit, danach zu fragen, welche Verantwortung die Schule trägt.

Erster Schultag

Der erste Schultag ist ein vernieselter Septembertag im Jahr 2005. Marie ist unser erstes Kind. Bei ihren beiden Brüdern werden wir schon sehr viel gelassener sein. Drei Kinder im staatlichen, seit Pisa geschockten und durch unendliche Schuldebatten zutiefst verunsicherten Schulsystem: Selbstverständlich ist das nicht.

Marie freut sich auf die Schule - wie ein glückliches Kind, das nichts weiß von Bildungsreformen und der Furcht ihrer Eltern, sich womöglich für das falsche System entschieden zu haben.

Die Namen der Kinder werden verlesen. Wie in Bayern und in der Bürokratie üblich, kommt zuerst der Nach-, dann der Vorname. Beim Namen "Kaiser, Franz-Josef" wird gelacht. Die Kinder werden den fünf Klassen zugeteilt. Marie kommt in die 1e. Die Zuteilungszeremonie erinnert an den sprechenden Hut bei Harry Potter, der die Schüler nicht nur "Gryffindor", "Ravenclaw", "Hufflepuff" oder "Slytherin" zuteilt, sondern auch in die Schülerseelen zu blicken scheint.

Marie trägt an ihrem ersten Schultag ein Dirndl, was ihr nun peinlich ist, weil sie die Einzige im Dirndl in der 1e ist. Sie weint ein bisschen und hält sich an ihrer Schultüte fest. Ich sehe ihre Tränen - und das geht mir so nah, dass ich nun hektisch fotografieren muss. Eine Mutter sagt mir mitfühlend, dass meine Tochter die Einzige in der Klasse sei, die weint. Ich überlege, ob der Wettbewerb schon begonnen und ob Marie jetzt schon ein Minus erhalten hat. Ein Vater sagt zu mir: "Ach toll. Fotografieren, wie früher." Dabei schwenkt er seine Cam der neuesten Bauweise herum. Noch ein Minus. Eltern taxieren einander. Man möchte wissen, in welches soziale Milieu das Kind gerät. Der Vater unseres Nachbarkindes sagt, dass die 1a eine bessere Lehrerin habe. Auch die Adligen seien alle in der 1a. Wenn das stimmt, ist die Schulleitung nicht bei Trost. Wenn es nicht stimmt, gilt das für die Eltern.

Den pinkfarbenen Schulranzen, den unsere Tochter unbedingt haben wollte, wollten offensichtlich auch andere Töchter unbedingt haben. Die Kinder freut das, es gibt ihnen ein Gefühl von Gemeinschaft. Nur die Eltern ärgern sich darüber. Eltern finden, man muss sich individuell absetzen. Später wird deshalb keine Schuluniform gewünscht, was dazu führt, dass alle Kinder die gleichen teuren Klamotten tragen.

Auf der nächsten Seite: Warum man in der Schule die Zeitrechnung v. P. und n. P. einführen müsste : vor und nach Pisa.

Persönlichkeit

Leistungstest: Der Übertritt hat die Form eines Damoklesschwertes, das an einem Rosshaar über dem Kopf des Grundschulkindes baumelt. (Foto: Foto: dpa)

Ein Vater erzählt, dass er seinen Sohn zum Golfschnupperkurs anmelden möchte. Hat noch jemand Interesse? Golf sei ideal - zum Ausgleich und "wegen der Kontakte". Man kann nicht früh genug anfangen damit. Eine Mutter überreicht der Lehrerin ein Geschenk. Kontakt! Der Wahnsinn ist wie mit Händen zu greifen. Niemand stört sich daran. Wahnsinn ist nach Pisa normal. In der Schule müsste man die Zeitrechnung v. P. und n. P. einführen: vor und nach Pisa.

Meine Frau und ich sind in den 1970er Jahren v. P. zur Schule gegangen. In den Provinzstädten, aus denen wir kommen, gab es ein staatliches, alternativloses und im Großen und Ganzen als nicht gerade marode geltendes Schulsystem und demzufolge auch eine Grundschule im Sprengel. Debatten gab es nicht. N. P. ist alles anders: Jetzt gibt es viele begehrte Alternativen zur Grundschule wie zum Gymnasium, viele Experten und viele Meinungen. Vor allem aber gibt es jede Menge Angst. Angst vor der falschen, weil überforderten Schule, vor überforderten Lehrern, überforderten Kindern und vor der eigenen Überforderung.

"Die Grundschule", heißt es in einer Broschüre des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, "soll die Basis für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder legen." Die Basis ist, dass vor allem die Eltern den Start ihrer Kinder beobachten, als wären sie Schwimmtrainer kurz vor den Olympischen Spielen, die den Start ihrer Lieblinge mit Stoppuhr und in Form von Hundertstelsekunden messen.

Krankheit

Marie hatte kaum Sport, wenig Englisch, kaum Musik- und Kunstunterricht. Dafür hatte sie oft frei oder Vertretungsstunden bei nicht immer motivierten Ersatz- oder Parallel-Lehrern. Man sagt, es sei ein Klischee, dass Lehrer so oft im Unterricht fehlen. Ich kann das nur bestätigen: das Klischee. Gibt es genug Lehrer?

Chinesisch

Jemand fragt mich, ob Marie auch schon Englisch im Kindergarten hatte. Ja, hatte sie. Gebracht hat es gar nichts. Ich kenne zwei nette Menschen, die mit ihrem Kind nachmittags nur Englisch reden. Weil das ein sehr bayerisches und, wie man sagen muss, ziemlich schlechtes Schulenglischgebrabbel ist, wird das arme Kind in einer Sprache erzogen, die niemals irgendein Mensch außerhalb dieser Familie dechiffrieren wird können.

Wir hatten ein Jahr lang ein Au-pair-Mädchen. Zuzanna, genannt Susi, aus Tschechien. Sehr nett. Freunde fragten uns, warum denn nur aus Tschechien? Die kommenden Sprachräume seien Indien oder China. Das hatten wir nicht bedacht. Wir wussten nicht, dass ein chinesisches Au-pair für unsere Kinder einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil darstellen kann. Die Globalisierung schläft nicht. Die Eltern versammeln sich regelmäßig, um die Entwicklung ihrer Kinder unter Globalisierungsaspekten zu besprechen. Für diese Kinder beginnt nun eines der großen Lebensabenteuer: die Schule, von der manche sagen, es sei die Schule des Lebens.

Auf der nächsten Seite: Wer sagt, dass die Schule aus Steuermitteln bezahlt wird? Es wird erhoben: Büchergeld, Klassenkassengeld, Ausflugsgeld, Kopiergeld.

Im Container

Maries Schule ist schön. So eine alte Schule, der man von weitem ansieht, wie es darin riecht. Dieser typische Geruch nach Linoleum und Angst vor schlechten Noten, den man nie wieder vergisst. Eine Schule ist es, wie sie in der "Feuerzangenbowle" beschrieben wird, also in dem Buch von Heinrich Spoerl, in dem es heißt: "Dieses Buch ist ein Loblied auf die Schule, aber es ist möglich, daß die Schule es nicht merkt."

Leider wird die Schule renoviert. Das dauert zwei Jahre. In dieser Zeit wird die 1e und noch die 2e in aufeinandergestapelten Baucontainern unterrichtet. Im Winter müssen die Kinder ihre Schuhe und Mützen, ja selbst die nassen, beschneiten Mäntel mit ins Klassenzimmer nehmen. Der Geruch ist unbeschreiblich. Es ist laut im Container. Man beschließt mit Hilfe der Eltern - als gemeinschaftliche Solidaraktion - gefärbte Eierkartons an die Decke zu nageln, damit die Akustik besser wird. Das wird auch gemacht. Nach anderthalb Jahren.

Hausschuhe

Die Kinder brauchen Hausschuhe. Wir werden brieflich davon unterrichtet, dass die Hausschuhe im Sommer nicht so warm sein sollen wie die im Winter. Schule ist viel Briefverkehr. Nicht alles davon scheint notwendig zu sein. Ansonsten braucht man viel Kleingeld. Es wird erhoben: Büchergeld, Klassenkassengeld, Ausflugsgeld, Kopiergeld - jeweils abgezählt in passenden Beträgen. Möglichst wenig Münzen. Später kommen Steckwürfel zum Rechnen, Vokabelkasten und in der vierten Klasse eine Wortscheibe dazu. Das alles kostet Geld. Wer sagt, dass die Schule aus Steuermitteln bezahlt wird?

Noten

"Die Zeugnisse der Jahrgangsstufen 1 und 2 enthalten keine Ziffernnoten, sondern einen Bericht über Sozial-, Lern- und Leistungsverhalten des Kindes." Sagt das Kultusministerium. Marie wird am 28. Juli 2006 attestiert, dass sie liebenswürdig, friedfertig, umgänglich und umsichtig sei. Berichte über das Leistungsverhalten gibt es nur zwei Mal im Jahr - zum Zwischen- und Jahreszeugnis. Statt Noten gibt es deshalb zum Beispiel Smileys. Solche mit herabgezogenen Mundwinkeln (Note 6 oder 5), geradem Mund, lachendem Mund oder sogar mit Krone. Die Kinder sagen jetzt nicht mehr "Was hast du? Ich hab eine Eins." Sondern sie sagen: "Ich hab eine Krone." Großer Fortschritt.

An Gesprächen, lese ich über meine Tochter, beteilige sie sich selbstbewusst und sprachlich sicher. Na bitte. In der Zeitung lesen wir, dass noch nie zuvor so viele Eltern so viele Kinder als "hochbegabt" eingeschätzt hätten. An anderer Stelle ist zu lesen, dass die Rate der Hochbegabten seit Jahrzehnten stagniere. Wer je mit anderen Eltern Hausaufgaben besprochen hat, weiß die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu deuten. Aus "Zu Sachsituationen konnte sie den richtigen Rechenweg finden" wird dann sehr schnell ein: "Offenbar ein Mathe-Genie". Eltern mit übergroßem Ehrgeiz: ein übergroßes Schulproblem.

Auf der nächsten Seite: Für ihre Bereitschaft, den Wahnsinn der Rechtschreibreform zu ertragen, der auch in der Lehrerschaft Verwirrung stiftet, sollten Eltern Belobigungen und Fleißzettel erhalten.

Lehrer

Auf die Lehrer schimpfen alle. Sie stehen, wie die Schüler und wie die Eltern, unter gewaltigem Druck. Jede Grundschule in München und anderswo konkurriert um die besten Übertrittszahlen. In Maries dritter Klasse gibt es einen Vater, der alle Welt wissen lässt, er könne sich als Anwalt schon wehren gegen ungerechte Noten, die eigentlich nur das Ergebnis völlig inkompetenter Lehrer sein könnten. Arme Lehrer. Immer mit einem Fuß im Gefängnis.

Hausaufgaben

Arme Eltern. Ohne sie geht es nicht. Sie sind beim Ausflug zum Junior-Campus der BMW-Welt dabei, sie kommen mit, wenn in der zweiten Klasse der Igel durchgenommen wird und alle zusammen an den Stadtrand fahren, um dort eine Igel-Mama zu besuchen, die zahllose Igel über den Winter bringt in ihrem Haus. Es stinkt wie im Container.

Referate: Die würden ohne Google und Eltern gar nicht erst zustande kommen. Man sollte den Eltern Noten geben für ihre Referate über die Stadt im Mittelalter und das Wesen der Ameise. Für ihre Bereitschaft, den Wahnsinn der Rechtschreibreform zu ertragen, der auch in der Lehrerschaft Verwirrung stiftet, sollten Eltern Belobigungen und Fleißzettel erhalten. An einem Abend schließen sich vier Elternpaare zusammen, um in einer gemeinsamen Schaltkonferenz die neue Art der Subtraktion zu begreifen.

Wer keinen Internetanschluss hat, wer schlecht vernetzt ist im Freundeskreis und wer, weil er ein indischer Vater oder eine bosnische Mutter ist, die deutsche Sprache nicht perfekt beherrscht, tut sich schwer, seinem Kind zu helfen. Die Selektion fängt schon hier an, nicht erst beim Übertritt.

Klassenfahrt

Gibt es nicht. In vier Jahren hat die Gebeleschule es nicht geschafft, eine Klassenfahrt für Maries Klasse zu organisieren. Das aufregendste Ereignis ist eine Lesenacht in der Turnhalle, die ohne Eltern nicht zustande gekommen wäre. Ein Deal wäre: Früher gab es in der Grundschule auch keine Klassenfahrten - aber früher haben die Lehrer den Part übernommen, die Kinder mit Wissen und auch mit etwas Bildung auszustatten. Referate und Gegoogel von Eltern: überflüssig.

Übertritt

Der Übertritt hat die Form eines Damoklesschwertes, das an einem Rosshaar über dem Kopf des Grundschulkindes baumelt. Die Kinder würden es gar nicht sehen, haben dafür aber liebevolle Eltern, die ihre Kinder von der ersten Klasse an daran erinnern, dass, wer es nicht aufs Gymnasium schafft, quasi sein Lebensrecht verwirkt. Es gibt Eltern, die fangen bei der ersten "3" ihres Kindes an zu heulen. Marie macht es ihrem Vater leicht, sie hat gute Noten. Aber er würde sie auch gegen schlechte Noten verteidigen.

Auf der nächsten Seite: Vielleicht wäre es besser, man würde sein Kind ohne die eigenen Karrierehoffnungen und Globalisierungsängste in die Schule schicken.

Karrierehoffnungen und Globalisierungsängste

Er selbst hatte denkbar miese Noten in der Grundschule, dafür Eltern, die ihn gegen die Lehrer verteidigt haben. Nichts braucht ein Kind mehr, als Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Viele Eltern aber bestellen Nachhilfe, sobald die Note schlechter gerät als eine gerade noch akzeptable "1". Der Druck ist ungeheuer. Brav geben ihn die Lehrer an die Schüler weiter - und die Eltern sekundieren dabei. Vermutlich entsteht gerade eine Generation zwischen Übertrittsjahr und G8, die später die Psychopharmaka-Industrie am Leben erhält.

Nie zuvor gab es so viel seelische Labilität in der Grundschule, obwohl bestimmte Eltern nie zuvor den gemeinsamen Erziehungsauftrag so ernst genommen haben. Vielleicht wäre es besser, man würde sein Kind ohne die eigenen Karrierehoffnungen und Globalisierungsängste in die Schule schicken. Die erste Elternfrage zum Übertritt aufs Gymnasium hören wir in der zweiten Klasse - am ersten Elternabend. Von solchen Elternabenden kommt man nach Hause, um sich zu fragen, ob man zukunftsfähig ist.

Maries Freundin hat den Übertritt auch geschafft. Ihre Mutter bekommt dafür vom Ehemann ein Wellnesswochenende geschenkt. Das Kind ein neues Handy. Man muss auch motivieren können in der Leistungsgesellschaft.

Besser als sein Ruf

Auch wir sind überglücklich, dass unser Kind nun aufs Gymnasium kommt. Am Mittwoch war Einschreibung. Alle Münchner Gymnasien sind überfüllt. Es ist nicht sicher, ob Marie auf dem gewünschten Gymnasium, das einfach nur in Wohnungsnähe liegt und einen guten Eindruck macht, einen Platz erhält. Das Zittern geht von vorne los.

Wir vertrauen dem staatlichen Schulsystem denkwürdigerweise immer noch. Dass meine Tochter in der vierten Klasse noch immer Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland kennen- und auswendig lernen muss, heute nicht anders als im Jahr 1973, mag dem pädagogischen Fortschritt kaum genügen. Aber irgendwie erfüllt es mich mit Zuversicht.

Das heißt nicht, dass wir bedingungslos an dieses Schulsystem glauben. Es ist allerdings besser als sein Ruf. Marie hatte auch Lehrer, die sie achten konnte, Klassenkameraden, die Freunde wurden, Spaß an der Schule. Sie hat etwas gelernt: und zwar nicht nur Wissen. Das Wort Hysterie kennt sie noch nicht: Es ist das Grundproblem der gegenwärtigen Schule - aber sehr oft auch bei überambitionierten Eltern zu suchen, denen leider auch viele desinteressierte Eltern gegenüberstehen. Die beklagte Auslese in den Schulen beginnt in den Elternhäusern. Was fehlt, ist Normalität - und Vertrauen in unsere Kinder.

© SZ vom 16.5.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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