Selektion an Grundschulen:Tschüs, ihr Hauptschüler

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Am Ende der Grundschule beweisen wir uns als Weltmeister der Selektion: Den neugebackenen Gymnasiasten steht eine rosige Zukunft bevor, die anderen Kinder schieben wir in Verwahranstalten ab.

A. Rühle

Am vergangenen Montag gab es für 125.000 bayerische Viertklässler Übertrittszeugnisse, auch bekannt als Grundschulabitur. Willkommen also auf dem Weg in eine erfüllte Zukunft, ihr neugebackenen Gymnasiasten. Tschüs dann, ihr Hauptschüler. Und einmal mehr einen herzlichen Glückwunsch an das bayerische Schulsystem, das an diesem Tag wieder mal seinen Spitzenruf als Selektionsweltmeister verteidigen durfte.

Grundschüler: Manche Eltern wollen ihr Kind mit aller Macht aufs Gymnasium schieben. (Foto: Foto: dpa)

Was gibt es nicht alles für Studien, die belegen, dass die deutschen Schüler zu früh selektiert werden. Aus entwicklungspsychologischer Sicht stimmt die Einschulung mit dem Eintritt in eine neue Lebensphase überein, der Übertritt in die weiterführenden Schulen hingegen korrespondiert mit keiner spezifischen Entwicklungslage des Kindes. Im Gegenteil, man kann nur für die Hälfte aller Zehnjährigen schon eine sichere Schuleignungsprognose stellen, schließlich sind in dieser Altersstufe "einige Prozesse der kindlichen Entwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen. Obwohl pädagogische Gründe für die Ausweitung der Grundschulzeit sprechen, wird die sechsjährige Grundschule jedoch kaum als Zukunftsmodell gehandelt". Das schrieben die Pädagogen Eiko Jürgens und Hartmut Hacker schon 1997. Eigentlich hat sich seither nichts geändert.

Zweckfrei drauflos lernen

Klar, es gab soeben ein paar Veränderungen, die die bayerische Staatsregierung als Reformen verkauft: Seit diesem Jahr erhalten alle Schüler ein Übertrittszeugnis. Die endgültige Entscheidung über die Schulart wurde an das Ende der fünften Klasse gelegt. Außerdem sollen die Förderung leistungsschwacher Schüler und die Beratung der Eltern ausgebaut werden. Am Druck des Übertrittsverfahrens, am reduzierten, funktionalen Bildungsbegriff und an der vierjährigen Grundschule ändert all das nichts.

So überschattet die Übergangsauslese für viele Eltern ab der zweiten Klasse den Schulalltag, den Kindern bleibt kaum Zeit, einfach mal zweckfrei drauflos zu lernen. Kinderärzte behandeln Drittklässler wegen Stresssymptomen, und an manchen Schulen hat die Hälfte aller Viertklässler Nachhilfe. Es ist schier unerträglich, mitansehen zu müssen, wie einige Kinder anfangen sich einzukapseln, weil sie merken, dass sie, anders als ihre Freunde, es nicht schaffen aufs Gymnasium, und sich mit zehn Jahren abgestempelt, als Loser fühlen.

Mit aller Macht aufs Gymnasium

Das Traurige ist: Sie haben oftmals Recht. Zumindest in den Ballungsräumen sind die meisten Hauptschulen heute Resterampen, Verwahranstalten, Entlastungsinstitutionen für die anderen Schultypen. Im vergangenen Jahr sind in München wieder 17 Prozent der Hauptschüler ohne Abschluss von der Schule gegangen; viel zu viele haben wieder keine Lehrstelle gefunden, obwohl ihnen oftmals eine engagierte Lehrerschaft, Sozialverbände, Schulpaten unter die Arme gegriffen haben.

Angesichts solch dramatischer Erosionsprozesse an den Haupt- und auch an vielen Realschulen sind die Ängste vieler Eltern zu verstehen. Das heißt aber gleichzeitig noch lange nicht, dass es den Kindern guttut, wenn sie mit aller Macht aufs Gymnasium geschoben werden. Dass es für manches Kind besser wäre, erst mal auf die seinem Leistungsstand angemessene Schule zu gehen und es später dann, über Umwege, zum Abitur zu versuchen, ist für viele Eltern undenkbar.

Auf der nächsten Seite: Mit welch brachialen Mitteln Eltern um den Gymnasiumsübertritt kämpfen und Bildung als einzuklagende Dienstleistung begreifen.

Wettbewerbsängste der Eltern

So kämpfen heute einige mit brachialen Mitteln um den Gymnasiumsübertritt, erzürnte Väter tauchen mit Anwälten in Sprechstunden auf, Noten werden gerichtlich angefochten, Lehrer müssen sich bei jeder Bewertung doppelt absichern. Und manche Eltern reden über Schule und Bildung wie über eine einzuklagende Dienstleistung.

Mein Sohn kann nicht rechnen? Da hat ja wohl der Lehrer versagt. Für viele geht der Kampf ja mittlerweile noch früher los. In München melden Familien vor der Erstklasseinschulung erfundene Zweitwohnsitze in anderen Stadtvierteln an, um das eigene Kind in eine angeblich bessere Grundschule als die im eigenen Sprengel zu bugsieren. Hört man diese Eltern über Chancen für das eigene Kind reden, beschleicht einen der Verdacht, dass sie vor allem die eigenen Wettbewerbsängste weitergeben an die Kinder.

Verängstigtes Bürgertum

In Hamburg hat die schwarz-grüne Koalition in der radikalsten Bildungsreform seit 1945 beschlossen, die Grundschule um zwei Jahre zu verlängern. Real-, Haupt- und Gesamtschulen werden zu Stadtteilschulen zusammengelegt. Nach sechs Jahren kommt man also aufs Gymnasium oder auf die Stadtteilschule, die auch den Weg bis zum Abitur anbietet, den Kindern dabei aber ein Jahr mehr Zeit lässt. Das Ganze wird von den meisten Grundschullehrern und Pädagogen begeistert aufgenommen. Die aber haben die Rechnung ohne das verängstigte Bürgertum gemacht: Gymnasiasteneltern gehen jetzt auf die Straße und fordern eine Beibehaltung des achtjährigen Gymnasiums. Was das für die Haupt- und Realschüler bedeuten würde, an die bei dieser Reform vor allem gedacht wurde, scheint ihnen egal zu sein.

Was tun? Ruhig atmen. Die Bücher des Schweizer Kinderarztes Remo Largo lesen, dessen kluge Gelassenheitsappelle sind Balsam für gereizte Elternseelen. Und gleichzeitig, bei aller frisch erlernten Gelassenheit dem eigenen Kind gegenüber, protestieren gegen antiquierte Schulstrukturen, an denen noch immer Tausende Kinder leiden.

© SZ vom 6.5.2009/bön - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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