Selbstmord-Serie in Frankreich:Lieber tot als gemobbt

Notfallplan für Unternehmen: Der französische Staat will ein gutes Betriebsklima per Gesetz verordnen, um die Todesserie in den Konzernen zu stoppen.

Franziska Brüning

35 Selbsttötungen in zwei Jahren. Und das in nur einem einzigen Unternehmen. Zuletzt Ende Januar nahm sich ein Netzwerktechniker des Großkonzerns France Télécom das Leben. Was wie das Horrorszenario eines japanischen Films klingt, ist traurige Realität in Frankreich. Seit Monaten stehen immer wieder renommierte französische Firmen wie France Télécom oder Renault in den Schlagzeilen, weil sich ihre Mitarbeiter lieber umbringen, als weiter für sie zu arbeiten. "Laissez-faire", "Savoir-vivre" und zweistündige Mittagspausen - so angenehm stellen sich vor allem die Deutschen das Arbeitsleben in Frankreich vor. Die Selbstmord-Serie passt nicht in dieses Bild.

Selbstmord-Serie in Frankreich: Kann man per Gesetz ein besseres Betriebsklima erwirken? Die französische Regierung will es versuchen, wenn sich weiterhin Manager in Großkonzernen das Leben nehmen.

Kann man per Gesetz ein besseres Betriebsklima erwirken? Die französische Regierung will es versuchen, wenn sich weiterhin Manager in Großkonzernen das Leben nehmen.

(Foto: Foto: AFP)

Finanzielle Sanktionen

Der französische Arbeitsminister Xavier Darcos versucht schon seit Oktober 2009 mit einem "Notfallplan" weitere Selbstmorde am Arbeitsplatz zu vereiteln. So drohen den 2500 französischen Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern finanzielle Sanktionen, wenn sie das Arbeitsklima nicht verbessern. Sollte das nicht ausreichen, wird es wohl eine gesetzliche Regelung geben.

"France Télécom wird 2010 nicht mehr so sein wie früher", sagt Sébastien Audra, Pressesprecher des Großkonzerns. "Wir wollen einen neuen Gesellschaftsvertrag schaffen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, Stress zu vermindern und Mitarbeiter beispielsweise nicht mehr gegen ihren Willen zu versetzen. Darum sprechen wir mit den Gewerkschaften, organisieren bis auf weiteres jede Woche eine Vollversammlung und lassen alle Mitarbeiter zu Wort kommen."

Keine kurzfristigen Lösungen

Es soll keine kurzfristigen Lösungen geben, um dann wieder weiterzumachen wie bisher. Vorstandschef Didier Lombard hat jedenfalls seine persönlichen Konsequenzen aus der Selbstmordserie schon gezogen. Er wird sich zum 1. März aus der operativen Führung des Konzerns zurückziehen. Sein Nachfolger Stéphane Richard muss nun das Versprechen, das Arbeitsklima zu verbessern, auch einlösen.

Ob es in Deutschland ähnlich motivierte Selbstmordfälle gibt, ist bislang nicht bekannt. Anders als in Frankreich fehlt eine Instanz wie die französische Krankenkasse, die Selbstmorde am Arbeitsplatz zentral erfasst. Aber das ist nicht der einzige Unterschied.

Gut geölte Maschine

Christoph Barmeyer, Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Passau und Spezialist für französisches und deutsches Management, vergleicht französische Unternehmen mit einer Menschen-Pyramide und deutsche Firmenstrukturen mit einer gut geölten Maschine. Auf der einen Seite herrsche eine starke Hierarchie mit einer zentralisierten Macht, sagt er, auf der anderen Seite stehe seit Beginn der Bundesrepublik eine starke Demokratisierung der Firmen, in denen Aufgaben an Funktionsträger delegiert würden. "Die Maschine funktioniert autonom, ohne Eingriff des Chefs. Vieles basiert auf Fachkompetenz und ist sachlich organisiert. Stimmungen, die das beeinflussen, gibt es wenig", sagt Barmeyer.

Ein französisches Unternehmen funktioniert wie eine Familie

In Frankreich dominiert eine starke Personenbeziehung. Ist der Chef gut, funktionieren Abläufe sehr gut, und die Ziele werden erreicht. Es fehlt zwar an Entscheidungsfreiheit auf unterer und mittlerer Ebene, und die Organisation kann bürokratisch sein, dafür können in französischen Unternehmen Entscheidungen schnell gefällt werden. "Ein französisches Unternehmen funktioniert wie eine Familie oder ein Club. Man darf dort Gefühle zeigen, und wichtige Besprechungen finden in tollen Restaurants oder am Kaffeeautomaten statt. An Orten also, die im deutschen Verständnis eher keine beruflichen Orte sind. Eine starke Trennung zwischen Privatleben und Arbeit fehlt. Die Arbeitszeiten sind deshalb länger und unregelmäßiger. Und das erzeugt Stress", sagt Barmeyer.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum in Frankreich der Stress besonders groß ist.

Eine Menschen-Pyramide

Das "Savoir-vivre", das die Organisation französischer Unternehmen auf den ersten Blick widerspiegelt, ist ein kulturelles Missverständnis. Denn wer im schicken Restaurant vergisst, dass ein wichtiges Firmenprojekt zur Debatte steht, ist raus aus dem Spiel.

Das aber war im modernen Frankreich schon immer so, und nie war der Stress so groß, dass französische Arbeitnehmer einen Ausweg im Freitod gesucht hätten. Im Gegenteil: Vor seiner Privatisierung war ein Unternehmen wie France Télécom ein beliebter Arbeitgeber. Barmeyer sieht das Problem im britischen beziehungsweise amerikanischen Management, das auch in Frankreich Einzug gehalten hat und dort das gewachsene französische Pyramidensystem zerstört.

Nie war der Stress so groß

Re-Engeneering, Down-Sizing und Outsourcing heißen die neuen Strategien im Rahmen der Globalisierung, die auch in Deutschland "die Menschen kaputtmachen", wie Barmeyer sagt. Keiner weiß mehr, wo er hingehört, weniger müssen mehr arbeiten, und Arbeitsbereiche, die aus einem Unternehmen ein soziales System machten, in dem Menschen auch Identität und ein Zuhause fanden, werden ausgelagert. Die deutsche Maschine kann sich halbwegs anpassen, die französische Pyramide zerbricht. Während bei den Deutschen "nur" die körperliche Gesundheit leidet und immer mehr Arbeitnehmer wegen Burn-Out oder Hörsturz behandelt werden müssen, reibt die neue Arbeitswelt die Franzosen tiefer auf.

Noch heute ist Frankreich eine Form der Ständegesellschaft, in der man seinen gesellschaftlichen Platz über ein hartes Ausleseverfahren ergattert, das schon in der Schulzeit beginnt. Ehrgefühl und als "edel" angesehene Berufe sind Begriffe, die das französische Selbstverständnis prägen. Jedes Individuum besitzt einen Rang mit bestimmten Privilegien und Pflichten und nimmt Aufgaben wahr, die ihm dieser Rang zuschreibt.

Rang und Ehrgefühl

Schon die Bezeichnung "Cadres" für das Führungspersonal zeigt, wie wichtig dieser Rang und dieses Ehrgefühl sind. "Cadre" heißt Rahmen. Die in der Regel exzellent ausgebildeten französischen Manager geben also den Rahmen vor, in dem gearbeitet und Entscheidungen getroffen werden. Wenn sie diesen Rahmen nicht mehr bieten können, empfinden sie das als persönliche Niederlage, der sie machtlos gegenüberstehen.

"In Situationen, in denen Franzosen ihre Ehre verlieren, reagieren sie irrational", sagt Professor Barmeyer. In dem neuen anglo-amerikanischen Business-System ist eine ehrenvolle Haltung aber nicht mehr möglich. Da wird ungeachtet der persönlichen Verdienste, des harten Ausbildungsmarathons und der beruflichen Leistungen entschieden. Nur noch der Profit zählt, der Mensch ist nebensächlich.

Selbstmord als symbolischer Akt

Nicht ohne Grund stammen die Selbstmörder aus den Reihen des unteren und mittleren Managements. Sie sind schlecht organisiert und haben anders als die Arbeiter keine Fürsprecher. Betriebliche Mitbestimmung gibt es in französischen Unternehmen nicht. "Ihr Selbstmord ist ein symbolischer Akt", sagt Barmeyer. Tatsächlich radikalisiert sich der Arbeitskampf in Frankreich schon seit längerem. Arbeiter drohen damit, Fabriken in die Luft zu sprengen, Führungspersönlichkeiten setzen mit ihrem Freitod ein öffentlichkeitswirksames Fanal.

Wer möchte schon nach einer harten Ausbildung outgesourct, reengineert und downgesizt werden, selbst wenn diese Strategien an Hochschulen und Unternehmen gepredigt werden? Barmeyer findet deswegen die Reaktion der französischen Regierung richtig. Eine wirkliche Lösung kann allerdings nur das Topmanagement finden, glaubt er. "Wie wäre es wieder mit weniger Profit, mehr Nachhaltigkeit und mehr Sozialsystem?", fragt er. Dafür kämpfen die Franzosen - bis zum Einsatz ihres Lebens radikal und kompromisslos.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: