Sechsjährige Grundschule:Gemeinsam geht es auch

Geht eine sechsjährige Grundschulzeit zu Lasten leistungsstarker Schüler? Eine Studie zerstreut diese Sorge - und befeuert die Debatte um das deutsche Schulsystem.

Tanjev Schultz

In Hamburg entwarfen CDU und Grüne gerade ihr Konzept zur Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre, da platzte eine Studie des Berliner Bildungsforschers Rainer Lehmann in die Verhandlungen. Er stellte der sechsjährigen Grundschule, wie es sie in Berlin seit langem gibt, kein gutes Zeugnis aus. An Gymnasien würden Fünft- und Sechstklässler mehr lernen, sagte Lehmann. Das war vor einem Jahr. Die sechsjährige Grundschule sei "mit Pauken und Trompeten durchgefallen", erklärte damals der Philologenverband.

Sechsjährige Grundschule: Grundschüler im Unterricht: Die auf sechs Jahre ausgedehnte Grundschulzeit geht nicht zu Lasten besonders leistungsstarker Schüler.

Grundschüler im Unterricht: Die auf sechs Jahre ausgedehnte Grundschulzeit geht nicht zu Lasten besonders leistungsstarker Schüler.

(Foto: Foto: ap)

Lehmann hatte die Leistungsentwicklung in Mathematik und im Lesen an Berliner Grundschulen und an Gymnasien untersucht. In Berlin wechseln derzeit sieben bis acht Prozent der leistungsstärksten Grundschüler vorzeitig auf sogenannte grundständige Gymnasien, die entweder ein altsprachliches oder bilinguales Programm oder einen musikalischen oder sportlichen Schwerpunkt anbieten. Viele Eltern treibt die Sorge um, ihr Kind könnte in der Grundschule unterfordert sein.

Spitzenschüler leiden nicht

Eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin kommt nun aber zu anderen Ergebnissen als Lehmann. Ein Team um den MPIB-Direktor Jürgen Baumert, dessen Wort in der Bildungsforschung größtes Gewicht hat, sah sich die Daten aus Lehmanns Längsschnittstudie, der sogenannten Element-Studie, noch einmal genauer an und analysierte sie mit sehr ausgefeilten Methoden. Die Studie, die in Kürze in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft erscheint, beruht auf einem Vergleich zwischen 1758 Gymnasiasten und 3167 Grundschülern; der Datensatz wurde von Lehmann übernommen.

Baumert und seine Mitarbeiter können nun zeigen, dass sich bei vergleichbaren Schülern die Entwicklung der Lesekompetenz und der mathematischen Fähigkeiten an den Grundschulen und den grundständigen Gymnasien keineswegs unterscheidet. Die Befunde seien "ein Kompliment für die Grundschule", heißt es in dem Forschungsbericht. Die Entwicklungskurven von Spitzenschülern würden an den beiden Schulformen "parallel verlaufen".

Die auf sechs Jahre ausgedehnte Grundschulzeit muss demnach keineswegs zu Lasten besonders leistungsstarker Schüler gehen, wie das viele Eltern befürchten. Vor allem beim Lesen und dem Textverständnis, so die Studie, spreche viel dafür, dass der Entwicklungsprozess "von den Vorleistungen der Schüler und des Elternhauses lebt". Die grundständigen Gymnasien könnten davon profitieren, ohne diese Entwicklung selbst aktiv zu fördern. "Generell ist fraglich, ob die Gymnasien die Förderung der Lesekompetenz als akademische Aufgabe aller Fächer bislang überhaupt entdeckt haben."

Auf der nächsten Seite: Wie der Kontroast zwischen den Ergebnissen, die Lehmann und Baumert vorgelegt haben, zustande kommt.

Haben Gymnasiasten einen Leistungsvorsprung?

Umstrittene Interpretation

Die neue Studie stärkt indirekt den Befürwortern eines längeren gemeinsamen Lernens den Rücken; zumindest bestätigt sie nicht gängige Vorbehalte, die Kritiker gegen sechsjährige Grundschulen hegen. Bemerkenswert ist der Kontrast zwischen den Ergebnissen, die Lehmann und Baumert vorgelegt haben. Er ist vor allem dadurch zu erklären, dass die Schüler an den grundständigen Gymnasien in Berlin eine hochausgelesene, spezielle Gruppe darstellen, die sich nur mit großer methodischer Vorsicht mit den Kindern vergleichen lässt, die sechs Jahre an der Grundschule bleiben. Viele Kollegen Lehmanns hatten sich bereits vor einem Jahr über dessen Interpretation seiner Studie gewundert und ihm vorgeworfen, seine Skepsis gegenüber der sechsjährigen Grundschule sei durch seine Daten gar nicht gedeckt.

Der Philologenverband, in dem überwiegend Gymnasiallehrer organisiert sind, lässt sich von der neuen Studie allerdings nicht beirren. Verbandschef Heinz-Peter Meidinger sieht in ihr nur den "Versuch, Ergebnisse zu relativieren", indem man außerunterrichtliche Faktoren wie Grundintelligenz, Motivation und soziale Herkunft einbeziehe. Der Leistungsvorsprung der Gymnasiasten sei jedoch eine Tatsache; und das Gymnasium habe nie den Anspruch erhoben, für alle Kinder ungeachtet von Intelligenz und Motivation das beste schulische Angebot zu haben. Für begabte Schüler böten Gymnasien mit ihren erhöhten Anforderungen und Fächern wie Latein die besten Förderungsmöglichkeiten.

Ausdrücklich weisen Baumert und sein Forschungsteam in ihrer Studie darauf hin, dass ihre Befunde nichts darüber aussagen, wie die Gymnasien ihren "spezifischen Bildungsauftrag" erfüllten, also beispielsweise in Latein oder einem musikalischen Schwerpunkt.

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