Schulsystem:Jetzt wird's aber mal Zeit

Die Volksparteien sollten ihren alten Systemstreit beilegen und sich bundesweit auf zwei Schultypen einigen, findet der Leiter der Shell-Jugendstudien, Klaus Hurrelmann - und hat schon eine Idee, wie das gehen könnte.

Seit Jahrzehnten liegen die Parteien bei der Frage der Schulstruktur über Kreuz. Doch es gibt neue Bewegung. In Hamburg löst die CDU die Hauptschulen auf; in Schleswig-Holstein sollen sie ebenfalls abgeschafft werden, die Union trägt dies dort mit. Die SPD lässt allerdings auch Gemeinschaftsschulen gründen, die die Gymnasien überflüssig machen könnten. In Nordrhein-Westfalen will die SPD am Wochenende ihren schulpolitischen Kurs neu bestimmen. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, Professor in Bielefeld und Leiter der Shell-Jugendstudien, fordert einen bundesweiten Kompromiss.

Schulreform, AP

Schluss mit den alten Streitereien - Union und SPD sollten sich bei den Schulformen zusammenraufen.

(Foto: Foto: AP)

Ob es den großen Volksparteien nun gefällt oder nicht: Eine bundeseinheitliche Schulreform gehört jetzt auf die politische Tagesordnung. Im Zentrum muss die leidige Frage der Schulstruktur stehen. Die frühe Aufteilung der Schüler auf drei oder mehr Schulformen ist nicht länger haltbar.

Aus den Pisa-Studien lässt sich zwar nicht ablesen, ob ein gegliedertes oder ein integriertes Schulsystem für die Leistungen besser ist. Bei der sozialen Gerechtigkeit sieht das aber anders aus. In Deutschland ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistung ungewöhnlich stark. Die Aufgliederung in viele Schulformen lässt vor allem an Hauptschulen problematische Lernmilieus entstehen.

Die Schülerschaft regt sich nicht mehr gegenseitig an, sondern zieht sich in der Motivation kollektiv hinunter; so kommt es zur strukturellen Benachteiligung großer Gruppen von Jugendlichen. Nicht nur Pisa hat dies gezeigt, sondern auch die jüngste Shell-Jugendstudie.

Konkurrenz für Gymnasien

Nachdem die früheren Tabuthemen Ganztagsschule und Kinderkrippen in Arbeit sind, müssen sich Union und SPD nun auch bei den Schulformen zusammenraufen. Ich habe in einem Offenen Brief an die Kultusminister der 16 Bundesländer schon 1991 für einen Kompromiss plädiert: für das "Zwei-Wege-Modell".

Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen, so der Vorschlag, werden zu einer einheitlichen Schulform zusammengefasst, erhalten in allen Bundesländern einen identischen Namen (zum Beispiel Fachgymnasium oder Sekundarschule) und entwickeln ein eigenes, auf Interdisziplinarität und Projektarbeit, Lebenswelt- und Praxisbezug ausgerichtetes pädagogisches Konzept.

Sie erhalten so die Chance, dem Gymnasium Konkurrenz zu machen. Dazu braucht das neue Fachgymnasium auch eine eigene Oberstufe, die sich aus der Weiterentwicklung der Berufsschulen, Berufskollegs und anderer Einrichtungen neben der gymnasialen Oberstufe bilden sollte.

Der Vorschlag fand in Ostdeutschland Resonanz und führte mit dazu, die Schulform Hauptschule als gesonderte Institution gar nicht erst einzuführen. Ich habe den Vorschlag 15 Jahre später, im November 2006, erneuert. Kein Bildungspolitiker kann es heute noch verantworten, dass sich an der Hauptschule das Scheitern der Bildungschancen Tausender Schüler weiter verfestigt.

Das geschieht aber seit 30 Jahren. Neu ist, dass der Anteil der Jungen an den Abbrechern immer größer wird. Die letzte Shell-Jugendstudie hat hierzu beängstigende Zahlen vorgelegt und damit eine Diskussion über gezielte Leistungs- und Sozialförderung für Jungen ausgelöst.

Warum immer nur Radikallösungen

Seit dem Hilferuf des Lehrerkollegiums der Berliner Rütli-Hauptschule ist nicht mehr zu übersehen, wie viele Lehrer an Hauptschulen sich pädagogisch in einer Sackgasse fühlen. Hauptschullehrer haben eine Schülerschaft vor sich, die so starke Herausforderungen stellt, dass sie ihr auch bei größtem Einsatz unter den heutigen Arbeitsbedingungen nicht gerecht werden können.

Als erstes westliches Bundesland hat der Stadtstaat Hamburg gehandelt. Hier wurde unter der Federführung der CDU die Zusammenlegung von Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen formal beschlossen. Sie sollen Schritt für Schritt zu einer einheitlichen Schulform neben dem weiter bestehenden Gymnasium zusammengeführt werden.

Das könnte der Kompromiss für das ganze Bundesgebiet sein. Warum sollten in der Schulpolitik immer nur Radikallösungen funktionieren? Es gibt nicht nur die Alternative zwischen Vielgliedrigkeit á la CDU/CSU und Vollintegration á la SPD. Es gibt sinnvolle Zwischenlösungen. In ihnen sehe ich die bildungspolitische Rettung aus der jahrzehntelangen ideologischen Verbissenheit in der Schulpolitik.

Im zweiten Abschnitt: Wie die neue Schulform aussehen soll

Jetzt wird's aber mal Zeit

Hamburg macht einen ersten Schritt, aber vieles wurde dort bisher nur halbherzig eingeleitet. Eine nur mechanische Zusammenlegung von Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen, ohne dass sich an den Mittelzuweisungen, der Ausstattung, der Ausbildung und Bezahlung der Lehrer, den Lehrplänen und dem pädagogischen Programm etwas ändert, ist ineffektiv.

Gesucht: ein alternatives Bildungsprogramm

Eine Addition bisher getrennter Schulformen schafft nicht den ersehnten Neuanfang, reduziert noch nicht die Negativauslese der Schülerschaft. Sie führt in der Wahrnehmung von Eltern und Schülern auch nicht dazu, die neue Sekundarschule als gleichwertig oder sogar überlegen gegenüber dem Gymnasium einzuschätzen.

Die neue Schulform braucht ein hervorragendes Lehrerkollegium mit einem stimmigen Schulkonzept. Es geht um die Aufgabe, neben dem wissenschaftsorientierten Allgemeinbildungsprogramm des Gymnasiums ein alternatives, interdisziplinäres, an Projektarbeit orientiertes Bildungsprogramm zu entwickeln.

In dieses Programm sollten lebenswelt- und berufsweltbezogene Elemente eingehen. Eine gute Ausstattung mit sozialpädagogischen und psychologischen Fachkräften, ein Nachmittagsangebot in Zusammenarbeit mit vielen Trägern, Schülerfirmen und Kontakte zur lokalen Wirtschaft - alles das gehört zu dem Konzept. Die neue Schulform braucht dafür als Basis genau so viel Geld wie das Gymnasium. Nur dann kann sie attraktiv werden.

Bis zum Abitur

Und noch etwas ist wichtig: Die Wahl zwischen Gymnasium oder Fachgymnasium/Sekundarschule im Anschluss an die Grundschule muss den Eltern völlig freigestellt sein. Die ohnehin ungenauen Laufbahnempfehlungen können entfallen. Ein einmal an einer Schule akzeptierter Schüler darf nicht an die jeweils andere Schulform verwiesen werden, wenn er in Leistungsschwierigkeiten gerät.

Beide Schulformen haben die Verpflichtung, ihre einmal aufgenommene Schülerschaft zu halten, zu fördern und die Entwicklungspotentiale jedes Schülers so weit wie möglich zu entfalten. Zur Unterstützung wäre eine zusätzliche Geldzuweisung je nach den erreichten Förderergebnissen, die von einer unabhängigen Fachkommission beurteilt werden, eine wirkungsvolle Stimulanz. Sie würde einen Wettbewerb anfachen, welche Schulform das beste Konzept hat.

Die neue Schulform neben dem Gymnasium kann nur erfolgreich sein, wenn sie von Anfang an eine eigene Oberstufe hat, die in das berufs- und praxisorientierte Konzept passt. Die Oberstufe sollte organisatorisch und räumlich für Eltern und Schüler schon bei der Anmeldung in der fünften Klasse wahrnehmbar sein. Alle Schüler müssen die Chance haben, bis zum Abitur zu bleiben. Im Übrigen sollten alle Abschlusszeugnisse auf allen Stufen der beiden Schulformen identisch sein.

Eine solche Umstrukturierung in zwei gleichberechtigte Schulformen ist für die beiden großen Volksparteien ein akzeptabler Kompromiss. Er könnte innerhalb weniger Jahre umgesetzt werden. Der Radikalumbau des Schulsystems in Richtung Einheitssystem ist dagegen zeitlich unkalkulierbar. Die pragmatische Zwei-Wege-Lösung ist politisch berechenbar und kann als Zwischenschritt zu einem integrierten Schulsystem nach skandinavischem Vorbild verstanden werden.

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