Schulforschung:Messen ohne Maß

Die Pisa-Studie zieht eine Flut von weiteren Erhebungen nach sich. Bildungsforscher warnen vor allzu unkritischer Testgläubigkeit.

Von Fabienne Melzer

Aus der Schulpolitik wird Nicola Küppers zurzeit nicht schlau. Gerade erst hat die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen in der Grundschule eine flexible Eingangsphase eingeführt und die ersten beiden Schuljahre zusammengelegt. Statt Jahr für Jahr im Gleichschritt eine Klasse höher zu steigen, kann nun jedes Kind sein eigenes Tempo einlegen und bis zu drei Jahren in der Eingangsphase bleiben. Ein richtiger Schritt weg von der Gleichmacherei, findet die Grundschullehrerin aus Mülheim an der Ruhr. Deshalb kann sie nicht verstehen, dass nun alle Kinder zu einem landesweiten Test antreten müssen. "Da werden dann wieder alle über einen Kamm geschoren." Für Nicola Küppers passt das nicht zusammen. Wenn Lehrer ihre Schüler auf die Tests hin trimmen, fürchtet sie, könnte die individuelle Förderung wieder auf der Strecke bleiben.

Das Instrument, das die Grundschullehrerin an der Politik zweifeln lässt, heißt im Abkürzungsjargon VERA. Gemeint sind damit Vergleichsarbeiten, bei denen alle Viertklässler in sieben SPD-regierten Bundesländern jährlich ihren Bildungsstand testen lassen müssen. Die Ergebnisse sollen vor allen Dingen der individuellen Förderung dienen, erklärt etwa die nordrhein-westfälische Bildungsministerin, Ute Schäfer.

Ein Versprechen, dass die Ministerin nach Ansicht des Siegener Professors für Erziehungswissenschaften, Hans Brügelmann, nicht halten kann. Die Schüler werden je nach Leistung in drei verschiedene Kompetenzstufen sortiert. Ein viel zu grobes Raster, um individuelle Stärken und Schwächen zu erkennen. Außerdem spiegeln Tests immer nur die Leistung eines einzelnen Tages wieder, und sie verengen den Blick auf jene Fähigkeiten, die messbar sind. "So wurde die Rechtschreibung durch ein Diktat getestet. Zur Rechtschreibkompetenz gehört aber auch die Fähigkeit, Wörter nachzuschlagen."

Brügelmann lehnt Tests nicht ab. "Wir brauchen Tests, mit denen wir das Bildungssystem beobachten. Aber dazu reichen Stichproben alle fünf bis sechs Jahre. Schneller ändert sich das System sowieso nicht." Der Wissenschaftler warnt vor einer allzu unkritischen Testgläubigkeit. Tests seien nur ein Instrument unter vielen, um Leistungen von Schülern zu beurteilen. Und man könne nie ganz sicher sein, was eigentlich gemessen wurde. "Bei Diktaten wird beispielsweise auch die Stressfähigkeit eines Schülers gemessen, vor allem wenn er schwach in der Rechtschreibung ist", sagt Brügelmann. Auch müsse man sich fragen, wer die Inhalte der Tests festlegt und damit bestimmt, was Bildung ist. So sollten die Kinder bei VERA ihrer Oma einen Brief schreiben und sich darin von ihr einen Computer wünschen. Eine Frage, die Kinder ihren Großeltern kaum stellen werden, wenn diese auf Sozialhilfeniveau leben.

Für den Grundschulverband in Frankfurt zeigt die Aufgabe, wie wenig die Tester von der Wirklichkeit mancher Familien wissen. Doch in der Politik hat der blinde Faktenglauben längst um sich gegriffen. In allen Ministerien geht der Trend dahin, mehr zu messen und zu testen, beobachtet Martina Schmerr von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). "Das meiste Engagement haben die Kultusministerien nach Pisa in Standards und Vergleichsarbeiten gesteckt." Zwar testen auch Länder wie Schweden ihre Schüler regelmäßig, doch dort sind die meisten Tests freiwillig. "Und sie sind in eine ausgeprägte Förderkultur eingebettet", sagt Martina Schmerr. "In einem gegliederten Schulsystem könnten die Tests dazu führen, die Selektion noch zu verschärfen."

Mit dem Einstieg Deutschlands in internationale Schüler-Vergleichsstudien vollzieht das Bildungssystem eine Kehrtwende. Nicht mehr die Frage, wie guter Unterricht gestaltet werden muss, steht seither im Vordergrund, sondern das Ergebnis. Output- statt Input-Steuerung nennen Experten diesen Richtungswechsel. Angesichts leerer öffentlicher Kassen wundert das Frank-Olaf Radtke, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt, nicht. Mit der Krise des Sozialstaats gerät auch das Bildungssystem unter ökonomischen Druck. "Wir können für Bildung nicht mehr, sondern vielleicht sogar weniger ausgeben und müssen aber gleichzeitig besser werden", sagt Radtke.

Wiegen macht nicht fett

Unter diesen Vorzeichen könne sich Bildung nicht mehr am Einzelnen orientieren, sondern nur noch an der Effizienz des Systems. "Alles, was im Bildungssystem geschieht, muss Ertrag bringen. Auch Chancengleichheit wird erst unter dem Aspekt der Mobilisierung von Reserven interessant." Bessere Bildung verspricht sich Radtke von jährlichen Tests nicht. "Schließlich wird das Schwein vom Wiegen nicht fett."

Auch sein Kollege Tassilo Knauf, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Essen, kann über den Sinn solcher Tests nur rätseln. "Wir kennen doch die Defizite. Warum sie wieder und wieder messen?" Aus den Ergebnissen ließen sich weder Schlüsse auf bessere Unterrichtsmethoden ziehen, noch lasse sich die diagnostische Kompetenz der Lehrer weiterentwickeln. "Ich habe den Eindruck, es geht lediglich darum, die Kontrolle über das Bildungssystem zu behalten." Doch Selbständigkeit und Kontrolle vertragen sich nicht. Daher fürchten Wissenschaftler, dass Lehrer sich wieder zunehmend auf klassische Lehrmethoden zurückziehen, um einigermaßen sicher durch die Tests zu kommen. Das könnte Reformversuche, die gerade erst auf den Weg gekommen sind, schon im Ansatz wieder kaputt machen.

Eine Befürchtung, die nicht unbegründet scheint. So gerieten einige Lehrer und Lehrerinnen beim ersten Durchlauf der landesweiten Vergleichsarbeiten in regelrechten Prüfungsstress und schummelten sich um die strengen Vorgaben der Test-Autoren herum, heißt es beim Grundschulverband in Frankfurt. Sie gaben ihren Schülern Aufgaben zum Üben mit nach Hause, halfen bei der Lösung oder ließen ihrer Klasse zum Lösen der Aufgaben mehr Zeit als vorgesehen. Das Bildungssystem reagiert auf Druck einfach nur wie jedes andere Systeme: Es weicht dem Druck aus.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: