Schule:Der Spicker-Sammler

Ein Nürnberger Lehrer hat sein Berufsleben lang alles zusammengetragen, was seine Schüler auf Zettel gekritzelt haben. Darunter: Spickzettel, Spontanskizzen über die Weltpolitik und Karikaturen von ihm selbst.

Olaf Przybilla

Einmal, ein einziges Mal will Günter Hessenauer auch zu denen gehört haben, die alles riskiert und dabei alles gewonnen haben. Sechste Klasse, eine Stegreifaufgabe. Gelernt hat der junge Günter nichts, aber einen Zettel hat er geschrieben mit den wichtigsten Fakten, Fakten, Fakten. Um was es ging? Es könnten die zehn Gebote gewesen sein, die sieben Hügel Roms, die zwölf wichtigsten Wirbeltiere Westmittelfrankens. Wichtig an der Geschichte des jungen Günter werden diese Inhalte später nicht sein. Wichtig allein ist die Kunst des Verbergens. Günter saß in der ersten Reihe und sein Klassenlehrer, ein Mann mit imposantem Bauchansatz, soll sich darin gefallen haben, seinen Wachstand direkt vor Günters Pult zu beziehen. Über dem Tisch also hing des Lehrers Wampe. Darunter lag ein Spickzettel.

Günter Hessenauer, 66, bis vor drei Jahren Lehrer für Mathe und Physik an einer Nürnberger Realschule, brüstet sich mit dieser Geschichte bis heute. Dass er 30 Jahre nach der riskanten Stegreifaufgabe später mit dem Jagen und Sammeln von Spickzetteln begann, hatte einen ganz anderen Grund.

Fasching 1969, Willy Brandt regiert und Lehrer Hessenauer will sich einklinken in die Debatte über Subkulturen. Sein Thema, er will es in psychologischen und pädagogischen Fachblättern abgehandelt wissen, ist das in Skizzen und Kritzeleien sich manifestierende Lebensgefühl der Schüler. Eine erste Ausstellung stellt Hessenauer auf die Beine, die Leute aber mäkeln daran herum. Es fehle der Reiz des Verbotenen - die Spickzettel. Hessenauer macht einen Deal: Ein türkischer Schüler soll, alle drei Wochen, all das einkassieren, was den Unterschleif erst möglich macht. Zugebilligt wird Anonymität und Straffreiheit. "Sonderbar", klagt Hessenauer, "bis heute interessieren sich die Leute fast nur für diese Spicker.''

Dabei glaubt der Mann aus Rückersdorf bei Nürnberg viel größere Schätze in seinem 5000 Objekte umfassenden Zettelkasten zu bewahren: Spontanskizzen über Weltpolitik, hingeworfene Karikaturen und schwer melancholische Schülerdialoge auf Tempotaschentuch, die der "Perspektive des Schülers eine ganz eigene Sprache"' verleihen. Hessenauer wurde oft genug zum Spinner erklärt, auch seine Frau wollte das Sammelsurium längst in die blaue Tonne klopfen. Der Pensionär aber fragte bei der Universität an und die erklärt seine Zettel am heutigen Donnerstag zum Forschungsgegenstand: "Wir planen mehrere wissenschaftliche Arbeiten über schulische Subkultur", sagt Annette Scheunpflug, Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik an der Uni Erlangen-Nürnberg.

Was aber ist so interessant an der Banderole eines Erfrischungsgetränks, die einer so präpariert hat, dass nun nichts mehr über Ascorbinsäure und Carotine zu lesen ist, sondern Stichpunkte über die Wirtschaftspolitik von Franklin D. Roosevelt auf ihr stehen? Man erfahre viel, sagt Hessenauer, über die Hinlänglichkeit menschlichen Handelns: "Unterschleif ist in nahezu allen Fällen zeitaufwändiger als schlichtes Lernen."

Als überflüssig freilich erweise sich die Herstellung illegaler Hilfsmittel nicht: Wer sich stundenlang mit der mikroskopischen Reproduktion von Lernstoff beschäftigt, braucht hernach meist die betreffenden Zettel nicht mehr. Ein Richter vermachte dem Sammler einmal seine Zigarettenschachtel, in der sich verzettelt das halbe bürgerliche Gesetzbuch wiederfand - vonnöten war die Sammlung im juristischen Examen nicht.

Annette Scheunpflug glaubt sogar Rückschlüsse auf zeitgemäßen Unterricht ziehen zu können. Erwarten müsse man einen signifikanten Rückgang der Zettel über Jahreszahlen, denn im Lehrplan sind heute historische Zusammenhänge gefragt. Anhand des Zettelkastens glaubt die Professorin allerdings dokumentieren zu können, dass sich diese Vorgabe "in den Klassenzimmern nur allmählich durchsetzt".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: