Schule:Das Kind als Start-Up-Unternehmen

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Funktional, schlank, schnell - Bayern setzt mit seinen Schulreformen künftig auf Ausbildung statt auf Bildung.

Von Alex Rühle

"Politik ist die Freiheit, die die Wirtschaft ihr lässt", hat Dieter Hildebrandt einmal gesagt. Ein Synonym für Freiheit ist der Sachzwang - allerdings nur bei Defätisten. Diese wiederum sind entweder SPD-Mitglieder oder Marionetten des Bayerischen Philologenverbandes, der nach Ansicht mancher Politiker und Journalisten in Bayern so mächtig ist wie in den USA der CIA.

Große Mogelpackung

Zurück zur Freiheit: Entgegen des bayerischen Naturgesetzes Laptop mal Lederhose gleich ewiger Aufschwung geht es der Wirtschaft momentan nicht so toll. Also muss Vieles anders werden. Wir brauchen mehr Studenten. Genauer gesagt: viel mehr. Momentan gehen etwa 19 Prozent eines Jahrgangs in Bayern mit Allgemeiner Hochschulreife an die Uni. Weitere zehn Prozent kommen über die Fach- oder Berufsoberschule zum Studium. Macht zusammen 29 Prozent. Bayern bräuchte aber ein Quote von 40 Prozent. Woher nehmen?

Nun arbeitet die Bayerische Staatsregierung gymnasiumstechnisch an einer großen Mogelpackung, die man mit dem griffigen Slogan "G8 - alles wird anders und bleibt doch wie es ist" bewerben könnte. Die Strategie des Kultusministeriums erinnert an Woody Allens Parodie auf die Angebote amerikanischer Volkshochschulen. Allen schreibt darin einen Schnelllese-Kurs aus, in dem den Schülern beigebracht wird, dieselben Texte in immer kürzerer Zeit zu lesen. "Erst lassen wir alle Verben weg. Dann die Adjektive. Nach vier Wochen können Sie ,Anna Karenina'' in 46 Sekunden lesen!"

Das bayerische Gymnasium soll um ein Jahr verkürzt werden. Das ist nicht per se verwerflich. Wer aber Hals über Kopf arbeitet, der bricht sich das Genick: Die bayerische G8-Reform ist dermaßen unausgegoren, dass dadurch wohl mehr kaputtgemacht als verbessert wird. Sieht man einmal ab von der momentanen Posse um die Finanzierung des G8 und dem Flurschaden, den einige Minister mit ihrem Gerede von der Dummheit und Faulheit der Lehrer anrichten, so ist der eigentliche Unfug an den G8-Plänen, dass die Staatsregierung trotz der Kürzung um ein Jahr an der bisherigen Wochenstundenzahl nahezu unverändert festhalten will. Allen Defätisten, die da fragen, was der Käse denn solle, warum man nicht einfach die Stunden des eingesparten Jahres mit einstreiche, wird entgegengehalten: Bayern muss Weltmacht bleiben, brainmäßig jetzt.

Neues Billig-Abitur

Um so bizarrer mutet es da an, wenn nun gleichzeitig beschlossen wird, dass man in Bayern bald auch über die Berufs- und Fachoberschulen die Allgemeine Hochschulreife erlangen kann: Vom kommenden Herbst an können FOS- und BOS-Absolventen, die im Abschlusszeugnis einen Notendurchschnitt von mindestens 2,5 haben und eine zweite Fremdsprache rudimentär beherrschen, ein 13. Schuljahr besuchen und so an die Uni kommen. Ab 2006 soll es wahrscheinlich auch möglich sein, mit einem zusätzlichen Jahr an der Realschule die Allgemeine Hochschulreife zu erlangen.

Es wäre natürlich wünschenswert, wenn es mehr Abiturienten in Bayern gäbe; bislang bildet der Freistaat, was die Zahl der Abiturienten angeht, bundesweit eines der Schlusslichter. Und man kann sich auch nur freuen, wenn das bayerische Bildungssystem durchlässiger wird und einen flexibleren Ein-, Auf- und Umstieg innerhalb der Schultypen möglich macht.

In keinem anderen Bundesland treten zur Zeit so wenig Schüler von der Realschule ins Gymnasium über wie in Bayern. Daran wird sich mit Einführung des G8 aber nichts ändern. Im Gegenteil: Die Durchlässigkeit zwischen den Schularten wird noch mehr sinken. Insbesondere ist ein Übergang von der Realschule auf das achtjährige Gymnasium praktisch ab der 6. Klasse nicht mehr möglich. Da ist es ja eigentlich nur zu begrüßen, wenn die Realschüler wenigstens nach der Mittleren Reife eine zweite Chance erhalten.

Merkwürdig an der ganzen Aktion ist, dass nun auf der einen Seite ein Billig-Abitur eingeführt wird, während auf der anderen Seite das herkömmliche Abitur schwerer wird. Denn soviel steht fest: Durch das G8, wie es momentan geplant ist, werden bestimmt nicht mehr Gymnasiasten zum Abitur kommen. Eher weniger. Die gymnasiale Mittelstufe wird durch die vielen Nachmittagsstunden und die enorme Stofffülle hochselektiv werden (siehe SZ vom 13. Februar).

Der Mehrwert zählt

Die Realschule muss, ganz im Gegenteil dazu, jeden Schüler, und sei er noch so schlecht, aufnehmen: Es gibt zwar eine Eingangsprüfung, fällt ein Kind aber bei dieser Prüfung durch, folgt daraus nur, dass die Eltern zu einer Beratungsstunde müssen, in der sie darüber aufgeklärt werden, dass ihr Kind keine Chance hat an der Realschule. Entscheiden die Eltern danach, dass sie ihr Kind dennoch auf die Realschule schicken wollen, muss der Direktor das Kind nehmen. Wie passt das zusammen? Welchen Reim soll man sich darauf machen, dass die bayerische Staatsregierung nicht müde wird, mit ihrem Eliteabitur zu prahlen und, um an diesem Eliteabitur festzuhalten, die zukünftigen Gymnasiasten noch mehr fordert als bisher, zugleich aber nun ein Schmalspurabitur gefördert wird?

Politik, so könnte man Hildebrandts Satz abwandeln, ist im Freistaat, was die Wirtschaft daraus macht. Das bayerische Bildungssystem wird gerade umgebaut zu einem Ausbildungssystem. Die Wirtschaft rauft sich ja lange schon die Haare über alle, die noch einem philologisch-geisteswissenschaftlich ausgelegten Bildungsbegriff anhängen. Man könnte Benjamin Franklin zitieren, der sagte, die besten Zinsen bringe immer noch die Investition in Bildung. Aber Franklin ist old-fashioned. Der Münchner TU-Präsident Wolfgang Herrmann predigt seit Jahr und Tag, dass man sich in diesen Zeiten einen dysfunktionalen Bildungsbegriff nicht mehr leisten könne. Altgriechisch, Schulorchester - wo ist da der Mehrwert? Die marktkompatible Version der Bildung ist die Ausbildung - funktional, schlank, schnell. Der Staat zieht sich aus seiner Bildungsaufgabe zurück, die Wirtschaft holt die Schüler da ab, wo sie eben stehen und formt sie sich dann nach ihrem Bilde.

Das Baseler Prognos-Institut verfasste für die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft die Studie "Bildung neu denken", ein Papier, das die Kinder fit machen will für den Wettbewerb. Das Bildungssystem müsse "Schlüsselqualifikationen wie Stressresistenz" vermitteln und ein "pro-aktives Persönlichkeitsbild verfolgen", heißt es da. Zentrales Thema ist die Selbstverantwortung des Einzelnen, seine Bildung "unternehmerisch" zu managen.

Ab 2006 haben die bayerischen Eltern drei Möglichkeiten, wie sie ihr kindliches Start-Up-Unternehmen universitär positionieren. Fragt sich nur, wer außer ein paar versprengten Bildungsidealisten sein Kind dann noch aufs Gymnasium schicken wird.

© SZ vom 24.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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