Schüler:Mal überschätzt, mal unterschätzt

Gymnasium, Real- oder Hauptschule: Die Entscheidung dafür fällt für die meisten schon in der vierten Klasse. Doch die Empfehlungen der Lehrer sind häufig falsch. Der Pädagoge Rainer Block von der Universität Duisburg-Essen hat die Tauglichkeitsvoraussagen überprüft.

Nicola Holzapfel

sueddeutsche.de: Sie weisen nach, dass 73 Prozent der Realschüler, die zuvor das Gymnasium besucht hatten und von dort wegen unzureichender Leistungen "absteigen" mussten, zuvor von ihrer Grundschule als "gymnasial-tauglich" eingeschätzt worden waren. Warum sind sie dann gescheitert ?

Rainer Block, Pädagoge, Universität Duisburg-Essen

Rainer Block weiß, worüber er forscht: Wäre es nach der Schulempfehlung gegangen, wäre dem Pädagogen damals der Weg zum Abi versperrt gewesen.

(Foto: Foto: privat)

Rainer Block: Das ist ein Problem unseres Schulsystems. Wir maßen uns an, das Leistungsvermögen von 10jährigen Schülern zu prognostizieren. Aber das ist nicht möglich.

In einigen Bundesländern wird derzeit diskutiert, das Recht der Eltern, die Schulform für ihre Kinder zu wählen, abzuschaffen und die Schulempfehlung verpflichtend zu machen.

Dabei scheitern viel weniger Kinder an den übersteigerten Bildungsansprüchen ihrer Eltern als an falschen Einschätzungen der Lehrer. Das Risiko einer zu hohen Schulform zugewiesen zu werden, ist aufgrund einer unzutreffenden Grundschulempfehlung 24 Mal höher. Wenn man das Elternwahlrecht aufheben würde, hätte man also keine Garantie dafür, dass es weniger Schulabsteiger gibt - im Gegenteil.

sueddeutsche.de: Sollte man also allein die Eltern entscheiden lassen?

Block: Ich bin für einen kommunikativen Austausch. Die Eltern nehmen Leistungspotenziale ihres Kindes anders wahr als die Lehrer und umgekehrt. Man sollte versuchen zu einem Gesamtüberblick zu kommen, aber die Entscheidung letztlich den Eltern überlassen.

sueddeutsche.de: Aber nicht alle Eltern fördern die Schulkarriere ihrer Kinder gleichermaßen.

Block: In der Übergangsphase nach der vierten Klasse kommt es in unserem Schulsystem zu einer seltsamen Verquickung. Einerseits erfolgt durch die Schulempfehlung eine soziale Selektion. Schüler, die über das gleiche Leistungsvermögen verfügen, erhalten dennoch unterschiedliche Empfehlungen. Das liegt daran, dass die Lehrer sich auch am Bildungsniveau der Eltern orientieren.

Diese soziale Selektion wird durch das Wahlverhalten der Eltern noch verstärkt. Denn Eltern höherer Schichten setzen sich über die Schulempfehlung eher hinweg.

sueddeutsche.de: Sie haben nur die Schulabsteiger untersucht. Sicher gibt es auch Schüler, die zu niedrig eingestuft wurden.

Block: Das Verfahren trägt in beide Richtungen nicht. Die Pisa-Studien haben gezeigt, dass sich die Kompetenzen der Schüler in den einzelnen Schulformen stark unterscheiden. Es gibt Realschüler, die deutlich besser sind als ein Durchschnitts-Gymnasiast. Es gibt auch Hauptschüler, die in manchen Fächern mit den Leistungen der Gymnasiasten mithalten.

Diese Schüler wären also in der Lage, in einer höheren Schulform zu reüssieren.

Aber mit der Schulempfehlung in der vierten Klasse wird ihnen die Chancen verwehrt, die Schulform zu finden, die zu ihnen passt. Das später zu korrigieren, ist außerordentlich schwierig.

Es ist schon als außerordentlich problematisch einzustufen, dass so aufgrund eines Auswahlverfahrens, das nicht zuverlässig ist, fundamentale Bildungs- und Lebensentwürfe verteilt werden.

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