Schichtarbeit und die Folgen:Schlaflos, einsam, ausgelaugt

Arbeiten, wenn andere Leute schlafen - für Piloten und Krankenschwestern ist das Alltag. Doch die Schichtarbeit belastet ihre Gesundheit und ihr Sozialleben.

Nicole Grün

Sie sorgen dafür, dass Flugpassagiere nach Sydney kommen, Kranke versorgt und Feuer gelöscht werden, wenn die meisten Menschen längst ihren Feierabend genießen: Schichtarbeiter sind aus der 24-Stunden-Gesellschaft nicht wegzudenken. Etwa jeder sechste Beschäftigte in Deutschland arbeitet im Schichtdienst. Sich auf die wechselnden Arbeitszeiten einzustellen, ist für Körper und Psyche eine enorme Belastung.

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Wer zur Arbeit geht, wenn alle anderen schlafen, bekommt vom Leben oft nicht mehr viel mit.

(Foto: dpa)

"Stellen Sie sich vor, Sie würden jede zweite Nacht durchmachen oder zweimal in der Woche einen Langstreckenflug unternehmen: Dann wissen Sie, wie sich ein Schichtarbeiter fühlt", sagt Professor Ingo Fietze, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Berliner Charité. "Am nächsten Tag ist man malade und eigentlich gar nicht arbeitsfähig - Schichtarbeiter haben das ständig."

Während in der Bevölkerung etwa jeder Dritte Schlafprobleme kennt, sind es bei den Schichtarbeitern 80 Prozent. Dazu gesellen sich wegen der unregelmäßigen Essenszeiten häufig Magen-Darm- Probleme und auch Herz-Kreislauf-Beschwerden. Sogar das Krebsrisiko soll laut Forschern durch die Verschiebung des Tag-Nacht-Zyklus steigen.

Manche Schichtarbeiter fühlen sich sozial isoliert oder entwickeln gar eine Depression. Dennoch: "Die Mehrheit verkraftet die unregelmäßigen Arbeitszeiten gut", sagt Schlafexperte Fietze. So leidet nur jeder Fünfundzwanzigste am sogenannten Schichtarbeiter-Syndrom, einer Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus: zur Ruhezeit nicht schlafen, in der Schicht dagegen kaum die Augen offenhalten können. Der schlechte Ruf der Schichtarbeit sei daher medizinisch nicht immer gerechtfertigt. Was das soziale Leben betrifft, sehe die Sache jedoch anders aus.

Andrea Lemke kennt die ganz alltäglichen Probleme, mit denen Schichtarbeiter zu kämpfen haben. Die Pflegedirektorin des Jüdischen Krankenhauses in Berlin hat selbst bis Mitte 30 als Krankenschwester im Schichtdienst gearbeitet. "Wenn ich eine Woche Nachtschicht hatte, nahm ich sieben Tage nicht am Leben teil", sagt die 49-Jährige. "Man schläft und isst zu anderen Zeiten und hat keine Lust, nachmittags etwas zu unternehmen, weil man weiß, dass man abends wieder arbeiten muss", beschreibt sie den Druck, den jeder Schichtarbeiter kennt. Einige von ihnen suchen Rat im Internet. In Foren tauschen sie sich mit Leidensgenossen etwa darüber aus, wie sich Hobbys und Schichtdienst unter einen Hut bringen lassen.

Gar nicht, meint eine Teilnehmerin und schreibt: "Der Schichtdienst macht mich psychisch langsam kaputt! " Ein anderer erkundigt sich: "Ist Schichtdienst schuld am Single-Dasein?" Diskussionen über Beziehung und Familie sind in der Überzahl und zeichnen ein deutliches Bild, wie schwierig der Balanceakt zwischen Schichtarbeit und Privatleben ist. Mancher zweifelt: "Schichtarbeit und Familie - geht das auf Dauer wirklich gut?"

Ingo Fietze hat darauf eine klare Antwort: "Familie und Schichtdienst passen nicht zueinander." Mediziner haben mehrere Faktoren als "Schichtdienst-Intoleranzen" identifiziert. So sollte nicht als Schichtarbeiter anfangen, wer schon Schlafstörungen, Magen-Darm- oder Herz-Kreislauf-Probleme habe, Frühaufsteher, bereits älter als 45 Jahre sei oder zusätzlich einen anderen Job habe. Hohe familiäre Belastung zählt auch zu den Ausschlusskriterien.

Nichts für Frühaufsteher

Krankenpflegerin Lemke hat trotz Schichtarbeit nicht auf eine eigene Familie verzichtet, obwohl die Voraussetzungen denkbar ungünstig waren. "Als ich meine Tochter bekam, arbeitete auch mein Mann als Oberarzt in der Chirurgie im Schichtdienst." Ohne die Großeltern und das gute Berliner Kinderbetreuungsangebot wäre das gar nicht möglich gewesen, meint sie. "Um meinem Mann über den Weg zu laufen, hätte ich eigentlich Termine mit ihm ausmachen müssen", witzelt Lemke.

Obwohl sie als Pflegedirektorin nun geregelte Arbeitszeiten hat, vermisst sie manchmal den Kontakt zu den Patienten: "Ich muss mir zwar nicht mehr das Gemecker anhören, doch positives Feedback bekomme ich auch nicht mehr mit." Anerkennung in der Arbeit wie auch der positive Umgang mit Klienten zählen nach einer Studie der Gesellschaft für Betriebliche Gesundheitsförderung und des Schlafmedizin-Instituts Somnico in Berlin zu den Pufferfaktoren, die negative Auswirkungen von Schichtarbeit deutlich abmildern können. Auch wer einen großen Entscheidungsspielraum hat, sich mit seinem Arbeitgeber identifizieren und in der Arbeit lernen kann, steckt Schichtarbeit besser weg.

Unternehmen können ungewöhnliche Arbeitszeiten für ihre Mitarbeiter auch durch gute Schichtsysteme erträglicher machen. Maximal vier gleiche Dienste in Folge oder kurze Schichtwechsel im Uhrzeigersinn bringen den Schlaf-WachRhythmus nicht allzu sehr durcheinander, sagt Schlafmediziner Fietze. Am effektivsten scheine jedoch die individuelle Schichtplangestaltung zu sein. "Wer seine Schichten selbst legen kann, wie es ihm am besten passt, ist weniger krank und hat mehr Spaß an der Arbeit", sagt Fietze. Ein Konzept mit Zukunft, zugleich aber eine Herausforderung für Arbeitgeber, die alle Einzelwünsche unter einen Hut bringen müssen.

Natürlich sind auch die Schichtarbeiter selbst gefordert, etwas für ihre Gesundheit zu tun. "Wer Magenschmerzen hat, geht zum Arzt. Wer schlecht schläft, sagt: Ach, das wird schon wieder", hat Fietze festgestellt. Wenn Betroffene sich endlich untersuchen ließen, sei die Schlafstörung meist schon chronisch und schlecht zu behandeln. Zugleich ist das Informationsangebot für Schichtarbeiter gering, Seminare zum Thema oder gezielte betriebliche Gesundheitsvorsorge gibt es kaum.

Als probates Mittel gegen Schlafstörungen und Leistungsabfall empfiehlt Fietze das gute alte Nickerchen: "Zehn bis dreißig Minuten pro Schicht genügen, dann sind die Arbeiter die nächsten vier Stunden fit." Regelmäßig rät er Unternehmen dazu, Ruheräume für ihre Angestellten einzurichten. "Davon will aber niemand etwas hören, lieber sollen sich die Arbeiter mit Koffein vollpumpen", ärgert er sich. Um den schlechten Ruf des Kurzschlafs aufzupolieren, hat Fietze einen ungewöhnlichen Tipp für Chefs: "Ich würde allen, die im Großraumbüro wegnicken und den Kopf auf den Tisch legen, hinterher gratulieren."

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