Routinen im Arbeitsalltag:Selbstoptimierer küsst die Muse selten

Genies als Aushängeschilder einer effizienzorientierten Arbeitsmoral? Ein Software-Unternehmen verbreitet die Tagesabläufe von Künstlern über Facebook und Twitter. Als Vorbild für Arbeitnehmer heute taugen sie allerdings nur bedingt.

Von Thorsten Glotzmann

Von acht bis zwei Uhr im Büro der Versicherung, bis drei oder halb vier Uhr Mittagessen, danach ins Bett, schlafen bis halb acht, dann zehn Minuten Turnen, nackt bei offenem Fenster, anschließend eine Stunde Spazierengehen. So ein Tagesablauf klingt fürchterlich belanglos, wenn man nicht weiß, dass es Franz Kafka ist, der da schuftet, mit dem Schlaf ringt und nackt am Fenster turnt. Nachts schrieb er, je nach Kraft, Lust und Glück, bis eins, vielleicht auch bis drei, dann turnte er wieder, um sich mit leichten Herzschmerzen und zuckender Bauchmuskulatur ins Bett zu legen.

Diese Anekdote findet sich im Buch "Daily Rituals" des Schriftstellers Mason Currey. Im Deutschen trägt es den Titel "Musenküsse", denn als solche sollen die beschriebenen Rituale fungieren. Sie sollen inspirieren, Beispiel, wenn nicht gar Vorbild für den Arbeitnehmer sein. Doch dazu taugen die Schriftsteller, Komponisten und Künstler aus Curreys Buch nicht. Sie sind alltagsuntauglich, im besten Sinne.

Das amerikanische Software-Unternehmen Citrix, das sich mit dem Thema Arbeitszeiten befasst, hat die Alltagsroutinen aus Curreys Buch sogar graphisch aufbereitet. Die interaktive Graphik wurde etwa 16 500 Mal bei Facebook und 4700 Mal bei Twitter geteilt - eben dort, wo permanent belanglose Details von Tagesabläufen publik gemacht werden. Man wünscht sich Orientierung und erhofft sie sich von bekannten Namen. Schon die andauernden Status-Updates von Kollegen bei Facebook zeigen, dass in der Frage, wie der Arbeitstag heute sinnvoll zu gestalten ist, Klärungsbedarf besteht.

"Sei ordentlich und fleißig in deinem Leben"

Balzac, Freud, Mozart und Kant - sie haben wie wir alle zahlreiche Stunden ihres Tages der Arbeit gewidmet, ihrer kreativen Tätigkeit einerseits, ihrem Broterwerb andererseits. Kant dozierte an der Universität, Freud behandelte Patienten, Mozart gab Unterricht. Das geht aus der Tabelle von Citrix hervor. Als Beispiel der Disziplin und Strebsamkeit wird unter der Graphik ein Diktum Flauberts eingeblendet: "Sei ordentlich und fleißig in deinem Leben, sodass du kämpferisch und originell in deiner Arbeit sein kannst."

Unversehens droht hier die Instrumentalisierung der Musenküsse: Die vermeintliche Selbstdisziplin all dieser Genies wird zum Aushängeschild einer Arbeitsmoral, die der Effizienz verpflichtet ist. Seht her, so die Botschaft der Graphik, diese großen Denker waren keine Müßiggänger, sie waren workaholics, die ihren Tagesablauf klar strukturierten und mit sehr wenig Schlaf auskamen. Die Time postete die Graphik mit der Frage: "Sind Sie sich nie sicher, wie Sie Ihre Zeit einteilen sollen, um Ihre Produktivität zu maximieren und Ihre Kreativität zu steigern?" Das ist Wirtschaftssprech.

Können wir uns ein Beispiel an Freud und Kant nehmen?

Die Tagesbiographien großer Denker, Dichter, Komponisten und Künstler werden hier mit betriebswirtschaftlichem Vokabular überschrieben und für die gewinnmaximierende Geschäftswelt nutzbar gemacht. Aus ihnen versucht das Software-Unternehmen recht konkrete Forderungen für die heutige Arbeitswelt abzuleiten: "Nicht jeder funktioniert nach dem gleichen Rhythmus", sagt eine Citrix-Sprecherin. "Alle, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, haben ein Interesse an flexiblen Arbeitszeiten." Damit mag sie Recht haben oder nicht. Von Balzac, Freud und Kafka, die in ganz anderen Epochen lebten, auf die Bedürfnisse des Arbeitnehmers von heute zu schließen, ist mindestens waghalsig.

Dass die beschriebenen Tagesabläufe von Künstlern einer gewissen Regelmäßigkeit folgten, hat wenig mit ökonomischem Denken zu tun. Es ging ihnen nicht vorrangig um eine effiziente Gestaltung ihrer Arbeitszeit, ebenso wenig um Selbstoptimierung. Es ging ihnen vor allem um ihr Werk, das selbst eine Art spirituelle Praxis sein kann, wie der Pariser Maler und Uni-Dozent Olivier Long in seinem Buch "L'œuvre comme exercice spirituel" ("Das Werk als spirituelle Übung", 2013) zeigt.

Long beschreibt mit Blick auf das 19. Jahrhundert, dass sich Künstler wie Paul Cézanne asketische Praktiken zu Eigen gemacht haben, die aus der antiken Philosophie, genauer: aus dem Stoizismus, stammen. Dazu gehören Meditations- und Aufmerksamkeitsübungen, die das Ziel haben, sich selbst zu beherrschen und sich nicht länger beherrschen zu lassen, von Trieben, von Ängsten und materialistischen Befindlichkeiten. Wenn sich diese Künstler der stoischen Selbstdisziplin unterwarfen, taten sie es, um sich nicht länger von außen disziplinieren zu lassen, sie taten es, um ein bisschen unabhängiger zu werden. Dieses Mehr an Freiheit ist ist so ungefähr das Gegenteil davon, wie abhängig Beschäftigte ihren Arbeitsalltag erleben. Und so ziemlich das Gegenteil betriebswirtschaftlicher Unternehmensführung.

Freud kokste und rauchte bis zu 20 Zigarren am Tag

Vorbild können viele Schriftsteller und Künstler schon deswegen nicht sein, weil ihr Werk selbstzerstörerisch war. Balzac berauschte sich so lange am Kaffee, bis er tot umfiel, er trank und schrieb sich förmlich zu Tode. Proust hat sich seinem Werk in einem Maße geopfert, dass sein Leben aus nichts anderem mehr bestand, außerdem war er depressiv. Sich daran zu orientieren, ist Arbeitnehmern nicht zu raten.

Aber Freud und Kant, können wir uns nicht wenigstens an ihnen ein Beispiel nehmen? Nun, Freud kokste, rauchte bis zu 20 Zigarren am Tag und ließ sich die Zahnpasta morgens von seiner Frau auf die Bürste schmieren. Das ist aus emanzipatorischen Gründen heute - zum Glück - undenkbar. Kant öffnete jeden Mittag eine Flasche Rotwein und lebte sonst recht zwanghaft. Das taugt wohl leider alles nicht als Vorbild für die Arbeitnehmer von heute. Genies lassen sich eben nicht vereinnahmen.

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