Psychische Belastungen:Ermüdende Selbstoptimierung ist kein Heldentum

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(Foto: Tim Gouw / Unsplash)

Immer mehr Menschen melden sich wegen psychischer Erkrankungen von der Arbeit ab. Schuld daran sind Ehrgeiz und Leistungsdruck. Klare Regeln müssen her.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Die Zahlen sind drastisch. Wer bei der Krankenkasse AOK versichert ist, meldet sich heute weit häufiger wegen psychischer Erkrankungen von der Arbeit ab als vor zehn Jahren. Die Zahl der ausfallenden Tage hat sich fast verdoppelt. Auch wenn man von diesem Trend schon mal gehört hat: Die Steigerung ist enorm. Sie lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass psychische Probleme heute erfreulicherweise früher diagnostiziert werden und Arbeitnehmer offener damit umgehen können. Die Deutschen müssen besser verstehen lernen, was sie krank macht. Und was sich dagegen tun lässt - von der Politik, der Gesellschaft, den Firmen und ihnen selbst.

Die AOK lenkt den Blick darauf, dass jeder zweite Beschäftigte in den vergangenen Jahren von einer Lebenskrise getroffen wurde, die seine Arbeitsfähigkeit häufig beeinträchtigt. Ob Scheidung, Geldprobleme oder Tod eines Familienmitglieds. Bemerkenswert ist, dass ein Großteil der Mitarbeiter berichtet, ihre Firma nehme auf sie Rücksicht. Das steht im Gegensatz zur landläufigen Ansicht, wonach die Unternehmen im globalen Kapitalismus immer kälter werden.

Zahlreiche Vorgesetzte und Personalabteilungen sind offenbar zu der Einsicht gekommen, dass es auch der Firma hilft, wenn der Beschäftigte rasch wieder auf die Beine kommt - und dass Druck eher schadet. Allerdings zeigt sich, dass diese Einsicht in kleineren Unternehmen noch zu wenig verbreitet ist.

Mancher wird Opfer der eigenen Karriere

Lebenskrisen, gegen die sich jemand schwer schützen kann, sind aber nur ein Teil des Phänomens. Leichter als den erwähnten persönlichen Problemen lässt sich psychischen Belastungen vorbeugen, die mit dem Arbeitsplatz selbst zusammenhängen. Weil diese aber in ganz unterschiedlichen Gestalten daherkommen, verbietet sich eine schematische Antwort.

Da gibt es zum einen die Opfer der eigenen Karriere, die ihr Leben bis zur (dann nachhaltigen) Erschöpfung am Beruf ausrichten. Burn-out durch Ehrgeiz und ein Firmen-Umfeld, das nur das Immer-Mehr zu akzeptieren scheint. Um solche Zustände zu verhindern, sind die Unternehmen gefragt: Sie sollten als neues Leitbild die Balance zwischen Arbeit und Leben vorgeben, statt die ermüdende Selbstoptimierung zum Heldentum zu erklären. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich ein Burn-out nicht ohne Selbsterkenntnis des Betroffenen verhindern lässt: Wenn das Leben an einem vorbeizieht, weil die Karriere alles bedeutet, ist das nicht geil, sondern traurig.

Anti-Stress-Verordnung? Noch besser wäre Einigung

Eine andere Quelle psychischer Belastungen sind die Bedingungen in manchen Branchen. Helferberufe in der Kranken- und Altenpflege etwa kombinieren oft hohes Tempo, den Anblick menschlichen Leids, Magerlöhne und ungünstige Arbeitszeiten. Dies wird sich nur grundlegend ändern, wenn die Gesellschaft mehr für diese Aufgaben zu zahlen bereit ist, auf die sie mehr angewiesen ist als auf Fußballer und Finanzjongleure.

Ein anderes Problem haben Beschäftigte, die keine Anerkennung erfahren. Vorgesetzte und Kollegen, die jemanden nur ignorieren oder schimpfen, lassen ihn seelisch verdursten. Ebenso wenig zu unterschätzen ist die Belastung jener, die auf stupide Jobs reduziert werden.

Nach einer Umfrage fühlt sich jeder dritte Beschäftigte nicht über-, sondern unterfordert. Dieses Problem könnte noch zunehmen, da Unternehmen gerade Büroberufe zu digitalen Fließbändern umbauen, wo Tätigkeiten in sinnentleerte Einzelteile aufgespalten werden. Gewerkschaften und Politiker sollten es nicht der Wirtschaft und den Renditeforderungen der Aktionäre überlassen, wie die Arbeitswelt ausgestaltet wird.

Arbeitnehmer brauchen Hilfe von Politik und Unternehmen

Zur Realität gehört ebenso, dass das moderne Berufsleben anstrengender wird. Das liegt an stetig zunehmenden Leistungsvorgaben, die sich mit der Digitalisierung genauer kontrollieren lassen. Es liegt an der Tendenz zu Großraumbüros mit mehr Lärm und Gewusel. Und es liegt an der 24-Stunden-Erreichbarkeit durch Laptop und Smartphone.

All dem kann der Arbeitnehmer nur teils selbst begegnen. Etwa, in dem er sich überlegt, wie vielen Stunden Fernsehen oder Facebook er sich nach den Bildschirmstunden im Beruf noch aussetzt. Ansonsten aber ist die Politik gefordert. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die von der SPD favorisierte Anti-Stress-Verordnung verhindert. Regeln, wie Arbeitnehmer nach Dienstschluss erreichbar sein müssen, wären aber sinnvoll. Ebenso wie eine Verpflichtung der Unternehmen, ein gutes Betriebsklima zu schaffen.

Ein Gesetz also? Noch effektiver wäre es, wenn sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Vorgaben einigen, die genauer für jede Firma passen.

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