Privatschulen für Migrantenkinder:Dahin, wo keine Türken sind

Sie wollen eine gute Bildung um jeden Preis: Immer mehr deutsche Türken suchen gute Schulen für ihre Kinder - und fliehen dabei auch vor anderen Türken.

Elisabeth Kiderlen

Wir sind die, von denen er spricht, aber wir sind doch ganz anders." Die Schüler und Schülerinnen des deutsch-türkischen Privatgymnasiums in Berlin-Spandau fühlen sich übel angegriffen von Thilo Sarrazin. Nach dessen Äußerungen über Türken befragt, reagieren sie abwehrend, als wollten sie ein ihnen zu Unrecht angeheftetes Etikett abschütteln. Die Jugendlichen kommen aus Kreuzberg, dem Wedding, Neukölln, sogar aus dem Land Brandenburg hierher, viele nehmen eine Fahrzeit von täglich drei Stunden in Kauf, um ihre Bildungs- und Aufstiegsambitionen und die ihrer Eltern zu verwirklichen.

Symbolbild Ausländer in Schulen

Ihre Kinder sollen eine gute Ausbildung bekommen - dafür schicken deutscheTürken ihren Nachwuchs auf eigene Privatschulen.

(Foto: dpa)

"Ich sage ihnen, ihr müsst euch bemühen und gut werden, dann werden solche negativen Einstellungen Türken gegenüber von selbst verschwinden", heißt es im Lehrerzimmer auf die Frage nach der Reaktion der Pädagogen auf den Schülerfrust. Auch die Direktorin Sabrina Leberecht verweist auf die Zukunft und fordert Leistung: "Um gut ausgebildete Migrantenkinder werden sich die Firmen reißen, das sagen wir den Jugendlichen." Auf dem Flur neben dem Lehrerzimmer hängen die Fotos der "Besten des Monats", unter ihnen Mädchen mit und ohne Kopftuch, in einer kleinen, aus gelber Pappe ausgeschnittenen Gloriole, Leistung im Strahlenkranz.

"Die Botschaft, dass man in Zukunft ohne gute Ausbildung keinen guten Job bekommt, ist in der türkischen Community angekommen." Renate Rastätter, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im baden-württembergischen Landtag, verweist auf einen Stimmungswandel, der sich überall in Deutschland beobachten ließe. "Die Haltung der türkischen Eltern hat sich radikal verändert, sie kämpfen regelrecht um den Übergang ihrer Kinder zur Realschule oder aufs Gymnasium, sie wollen nicht, dass diese auf die Hauptschule kommen."

In Mannheim, Paderborn, Köln, Freiburg, Hamburg, Hannover, Stuttgart, Solingen, Ludwigsburg, auch im bayrischen Scheppach - immer mehr türkische Eltern gründen Vereine, auch zur Gründung privater Schulen. Oder sie bewerben sich auf einen Platz in bestehenden Privatschulen, ob diese nun die Betonung von Lernen, Fleiß, Verantwortung und Aufstiegswillen von der türkisch-islamischen Bildungsbewegung "Gülen" übernommen haben oder sich in evangelischer oder freier Trägerschaft befinden. Nicht wenige besuchen auch den bilingualen deutsch-türkischen Zweig der staatlichen Europa-Schulen. Die Eltern vereint, dass sie nicht mehr akzeptieren wollen, wenn nur acht Prozent der türkischen Kinder eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen: Das kann doch nicht sein, unsere Kinder sind doch nicht dümmer, heißt es. 69 türkische Elternvereine, die sich auf die eine oder andere Weise der Bildung der Kinder widmen, wurden im März 2010 in der Bundesrepublik gezählt.

Die Privatschule ist nicht immer der Ausweg

Nicht immer ist eine kostspielige Privatschule, die Kinder individuell fördern kann, der Ausweg. Viele türkische Eltern versuchen, ihre Kinder in staatliche Schulen unterzubringen, die nicht von so vielen türkischen und arabischen Schülern besucht werden. Türken fliehen vor Türken: "Es ist etwas Neues, dass türkische Eltern den sogenannten guten Schulen hinterherziehen", sagt Uwe Hampel, Direktor einer privaten Berliner Grundschule. Bislang hat er dieses Phänomen nur bei deutschen Eltern ohne Migrationshintergrund wahrgenommen.

Auch der Psychologe Kazim Erdogan ist mit seiner Familie von Neukölln in einen weniger durchmischten, bürgerlicheren Stadtteil gezogen. Es gibt zwar bislang keine Statistik, die dieses relativ neue Phänomen erfassen würde, aber Beobachtungen wie die von Erdogan bestätigen die Wanderbewegung: "Als wir mit unseren Töchtern hierherzogen, hatte nur ein Prozent der hiesigen Kita-Kinder eine Einwanderungsgeschichte, inzwischen sind es dreißig."

Diese Bildungsbewegung ist die eine Variante des türkischen Aufbruchs, die andere Variante zeigt sich in der Böhmischen Straße in Berlin-Neukölln. Hier hat Erdogan, der im Psycho-Sozialen Dienst des Bezirks arbeitet, eine Vätergruppe initiiert. "Aufbruch Neukölln", wie sich die Selbsterfahrungsrunde nennt, kommt regelmäßig zusammen und redet. Über die Familie, über die Kinder und die Schulsorgen, die Pubertät, über die Probleme mit den erwachsen werdenden Töchtern und Söhnen, über "Ehrenmorde", über das Leben in Deutschland und der Türkei, die Arbeitslosigkeit. Viele leiden unter dem Widerspruch zwischen der traditionell patriarchalischen Rolle in der alten Heimat und der ihnen eher unklaren Männerrolle in der modernen deutschen Umgebung.

Die Türkei als Vorbild

Durch ihre Gespräche sind sie mit der Zeit für ihre Umgebung in eine Vorbildrolle hineingewachsen, und so trugen sie beim diesjährigen Nachbarschaftsfest des Bezirks T-Shirts mit der Aufschrift "Türkische Väter gegen Gewalt". Sie beziehen auch Stellung in öffentlichen Angelegenheiten: Ein Betreuungsgeld für Kinder, die nicht in den Kindergarten gehen, lehnen sie ab, das Geld sei in den Bildungseinrichtungen besser angelegt. Und sie verteilen Einladungen: Die "Väter" haben Sarrazins Buch gelesen und dann eine Pressekonferenz einberufen. Erwartet hatten sie "vielleicht drei Journalisten", es kamen 30, die Empörung und Entrüstung bei den Türken dokumentieren wollten. Stattdessen sprachen die "Väter" sehr freundlich eine Einladung an den ehemaligen Bundesbanker Sarrazin aus, sie wollten mit ihm diskutieren. Inzwischen gibt es solche Vätergruppen auch in Köln und in Frankfurt, in Hamburg soll demnächst eine gegründet werden.

Es bewegt sich doch etwas

Die oben beschriebenen Beispiele von Veränderungsprozessen weisen auf eine neue gesellschaftliche Dynamik hin. Diese bezieht sich auf die Motivationslage und die Aktivitäten der Eltern. Die Dynamik hat sich noch nicht in der Statistik niedergeschlagen. Bis eine Entwicklung auf den Begriff gebracht oder in korrekte Zahlenkolonnen gegossen ist, dauert es, möglicherweise hat sich die Gesellschaft dann schon wieder weiter verändert.

So gelten vielen Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen Sarrazins Thesen nicht als völlig falsch, wohl aber für überholt. Sybille Volkholz, die ehemalige Berliner Schulsenatorin, meint dazu: "Die Daten haben sich inzwischen verändert. Auch der Anteil der Gymnasiasten ist kontinuierlich gestiegen. Es stimmt einfach nicht, dass sich bei den Schülern mit Migrationshintergrund nichts bewegt."

Hoher Bildungsanspruch

Nun ist auch eine empirische Untersuchung erschienen, die die oben beschriebene Dynamik in der Tendenz bestätigt. Der Soziologe Jörg Dollmann hat auf Grundlage der Daten, die das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung erhoben hat, eine Dissertation über "Türkischstämmige Kinder am ersten Bildungsübergang" veröffentlicht.

Das Fazit: Bei gleichen Leistungen und vergleichbarem sozialen Hintergrund wechseln türkischstämmige Grundschulkinder häufiger auf anspruchsvolle Schultypen als deutsche Kinder. Dollmann schreibt: "Mich hat interessiert, ob Türken aufgrund ihrer allgemein oft schlechteren Bildungssituation auch zurückhaltendere Bildungsentscheidungen treffen. Aber ganz im Gegenteil: Der Bildungsanspruch ist in den türkischen Familien höher, dies wirkt bestehenden Defiziten entgegen."

Bei Musa Özdemir, Lehrer an einer Brennpunktschule in Berlin-Kreuzberg, rufen inzwischen immer mehr Eltern an. Sie wollen, dass ihre Kinder aufs Gymnasium oder in die Realschule gehen, und sie bitten ihn um Hilfe. Derweil ärgert sich seine Kollegin Christel Lager darüber, dass das Bild der Türken bei den Deutschen anscheinend unverrückbar feststeht. "Türken, das heißt bei vielen: Die liegen uns auf der Tasche, sind ungebildet und entweder Gemüse- oder Drogenhändler. Doch was wissen sie schon über den türkischen Mittelstand?"

Kleinere Wohnung für teurere Schule

Die Ausdifferenzierung der türkischenCommunity in Mittel- und Unterschicht ist längst in vollem Gange. Für den sozialen Aufstieg spielt nicht nur der ökonomische Hintergrund der Familie eine Rolle, wesentlich ist der Bildungswille. "Ich kenne Familien, die in kleinere Wohnungen umgezogen sind, um mit dem gesparten Geld die Schule zu bezahlen." Irfan Kumru ist der Koordinator der privaten deutsch-türkischen Bildungseinrichtungen von "Tüdesb" in Berlin.

1994 hat es mit Nachhilfeunterricht für die Migrantenkinder angefangen, heute gehören drei Kindergärten, eine Grundschule, die sich an der Montessori-Methode orientiert, eine Realschule und ein Gymnasium dazu. "Tüdesb" werden Berührungen mit der Gülen-Bewegung nachgesagt. Aber was ist die Gülen-Bewegung? "Im Wesentlichen eine religionsfreundliche Aufstiegsbewegung der kleinen Leute, die dabei sind, wohlhabend zu werden und Bildungschancen für ihre Kinder wollen", erklärt Kumru. "Dabei setzen sie auf Integration durch Bildung und Dialog."

Bildung, Bildung, Bildung

"Tüdesb" hat inzwischen so viele Anträge, dass gar nicht alle Kinder aufgenommen werden können. Das Schulgeld fürs Gymnasium beträgt rund 350 Euro im Monat, für die Grundschule rund 300. Es gibt aber auch Ermäßigungen und einige Stipendien.

Bildung, Bildung, Bildung - der Trend kommt auch aus der Türkei zu den türkischen Familien in Deutschland. "Heute will in der Türkei jeder und jede studieren." Drei Millionen bewerben sich jedes Jahr, 450.000 können an den Hochschulen aufgenommen werden. Inzwischen gibt es in allen achtzig Provinzen des Landes eine Universität. "Die Türkei", sagt Irfan Kumru, "ist zum Vorbild für die deutschen Türken geworden."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: