Pisa-Studie:Schock mit Langzeitwirkung

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Schon vor Pisa waren die Mängel im deutschen Schulsystem bestens bekannt. Doch erst danach raffte sich die Kultusministerkonferenz zum Handeln auf und setzte Reformen in Gang.

Von Marco Finetti

Der Schock war groß, als am 4. Dezember 2001 die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie präsentiert wurden: Unter 32 Nationen, die an dem weltweit größten Schulleistungsvergleich teilgenommen hatten, landete Deutschland nur auf Platz 21.

"Nichts gelernt aus Pisa?" Eine Demonstration in Erfurt. Foto: ddp (Foto: N/A)

Sowohl beim Lesen und Schreiben als auch in der Mathematik rangierten die Schüler aus dem "Land der Dichter und Denker" weit hinter denen aus Finnland, Australien, Japan oder den USA.

Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit verfielen geradezu in Panik; eine aufgeregte bildungspolitische Grundsatzdebatte hob an.

Diese Aufgeregtheit ging freilich einher mit einer gewissen Heuchelei und Ignoranz. Denn wer um den schlechten Leistungsstand deutscher Schüler wissen wollte, hätte dies lange vor Pisa tun können. Schon zu Beginn der neunziger Jahre bescheinigte die erste weltweite Lese-Studie Irls (International Reading Literary Study) den jungen Deutschen nur mittelmäßige Kompetenzen.

Kurze Zeit später nahmen Untersuchungen in mehreren Bundesländern ein besonders beschämendes Pisa-Ergebnis vorweg: Gerade in Deutschland haben Schüler aus sozial benachteiligten Elternhäuser wesentlich schlechtere Chancen auf einen höheren Schulabschluss als Kinder gebildeter und besser verdienender Eltern.

Nicht mehr einholbar

1997 schließlich belegte Deutschland im internationalen Mathematik-Leistungsvergleich Timss (Third International Mathematics and Science Study) unter 41 Nationen nur Platz 23. Die siegreichen Schüler aus Singapur, Japan oder Südkorea beherrschten schon in der achten Klasse so viel Mathematik wie die deutschen erst zwei bis drei Jahre später. "Solche Vorsprünge sind praktisch nicht mehr einholbar", stellten die deutschen Timss-Organisatoren ernüchtert fest.

"Timss war der eigentliche Schock", sagt der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann. Dennoch bedurfte es erst des an sich absehbaren "Pisa-Schocks", um die verantwortlichen Kultusminister der Länder zu tiefgreifenden Reformen zu bewegen. Bis dahin hatte jedes Bundesland seine eigene Schulpolitik betrieben - nun raffte sich die Kultusministerkonferenz (KMK) endlich zu gemeinsamem Handeln auf.

Bildungsstandards für alle

Über alle politischen und pädagogischen Grenzen hinweg beschlossen die Länder im Juni 2002 die Einführung bundesweiter Bildungsstandards. Diese legen fest, was Schüler am Ende der zehnten Klasse wissen sollen, egal ob sie in Hamburg, Berlin oder München leben. "Das soll die Leistungen vergleichbarer machen und das Leistungsniveau insgesamt anheben", sagt die KMK-Präsidentin Doris Ahnen (SPD).

Die ersten Bildungsstandards in Mathematik, Deutsch und der ersten Fremdsprache wurden bereits zum laufenden Schuljahr eingeführt - ein für frühere KMK-Verhältnisse geradezu atemberaubendes Tempo.

Auch anderswo setzen die Bildungspolitiker auf mehr Qualität und Vergleichbarkeit. Fast alle Länder haben inzwischen das Zentralabitur eingeführt - bei dem alle Prüflinge eines Jahrgangs dieselben Aufgaben lösen müssen - oder wollen dies in den nächsten Jahren tun.

In den meisten Ländern werden in der vierten Klasse einheitliche Leistungstests geschrieben. Sie sollen möglichst früh zeigen, welche Defizite Schüler haben und wo sie stärker gefördert werden müssen.

Alles nun früher

Generell setzt die Förderung nun früher an - und dort, wo die größten Probleme liegen: Die Bildungsangebote im Kindergarten wurden vielerorts ausgeweitet, ebenso die Förderkurse für Schüler ausländischer Herkunft.

Auch der von Bund und Ländern nach vielem Hin und Her nun gemeinsam betriebene Ausbau der Ganztagesangebote an Schulen soll helfen, früher und individueller auf den einzelnen Schüler einzugehen.

Wie viel diese Reformen wert sind, ist strittig. Der OECD reichen sie nicht aus. Ihr Bildungsexperte Andreas Schleicher forderte erst im September, Deutschland müsse erheblich mehr in sein Bildungssystem investieren und endlich auch die veralteten Schulstrukturen aufbrechen, sonst werde es weiter zurückfallen.

Die Kultusminister sehen sich dagegen auf dem richtigen Weg, und nicht nur das: "In keinem anderen Land sind nach Pisa so viele grundlegende Reformen eingeleitet worden", sagt KMK-Präsidentin Ahnen.

Revolutionär

Unterstützung erhält sie dabei aus Wissenschaft und Pädagogik. "Vor allem die Bildungsstandards sind revolutionär", sagt Olaf Köller, Erziehungswissenschaftler an der Universität Nürnberg-Erlangen und designierter Chef des neuen "Instituts für Qualität im Bildungswesen". Es soll federführend bei den Leistungstests an deutschen Schulen werden.

Und Jürgen Baumert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, als deutscher Pisa-Koordinator ansonsten an schlechte Nachrichten gewöhnt, stellt fest: "Das ganze Bildungssystem ist in eine Bewegung geraten, wie wir sie nie hatten."

Baumert warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen. "Reformen brauchen Zeit", sagte er Ende 2001. Damals war er nach Pisa I gefragt worden, wie schnell sich etwas verbessern ließe: "Selbst zehn Jahre sind eine kurze Spanne."

© SZ vom 23.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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