Offener Brief an Bildungspolitiker:Sehr geehrte Kultusminister!

"Verzeihung! Sieht so Ihre Wissensgesellschaft aus? Sind Sie noch bei Trost?" Was hätte wohl Deutschlands erster Bildungsbeauftragter Wilhelm vom Humboldt über das Schulsystem gedacht? Ein offener Brief entdeckt von Tanjev Schultz

Meine lieben Nachfolger und Kollegen,

Humboldt, dpa

"Meine lieben Nachfolger und Kollegen" - Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) wendet sich in einem nicht ganz ernst gemeinten offenen Brief an die Kultusminister. Er war vor 200 Jahren Bildungsbeauftragter.

(Foto: Foto: AP)

von dem Sockel, auf den mich die Deutschen gestellt haben, bin ich abgestiegen, um mir Ihre Schulen und Universitäten anzuschauen. Bitte erlauben Sie: Ich hätte lieber auf meinem Sockel bleiben sollen.

Deutschland ist heute so reich, doch wie arm wirken noch immer die Bildungshäuser! Das Äußere kann trügen, gewiss. Aber müssten die schönsten Gebäude eines Ortes nicht die Schulen und Universitäten sein? Die engen Räume, die alten Möbel, die Lehrer vor zu großen Klassen - das alles kommt mir unangenehm vertraut vor.

Werte Kollegen! Sie haben es zugelassen, dass viele Schulen in Deutschland nur der Verwahrung frustrierter Kinder dienen und so manche Universität in Wahrheit eine mittelmäßige Fachschule ist, die die Studenten auf das Berufsleben trimmt. Unentwegt wollen Sie die jungen Menschen für irgendetwas "fit" machen, vor allem für den Wettbewerb und die Wirtschaft. So fesch das Vokabular ist, in dem Sie über vermeintliche Bildung reden, so altbacken ist der Unterricht. Lernen am Fließband, Unterricht nach Norm. Viele Schulen wirken auf mich wie Lernfabriken aus den frühen Tagen der Industriegesellschaft. Die Schüler werden von Stunde zu Stunde gereicht, wer nicht mitkommt, bleibt sitzen. Nachmittags hocken die Kinder in Nachhilfe-Instituten und die Jura-Studenten beim Repetitor. Ab und zu werden die Köpfe geleert, anschließend ist wieder Platz. Ich höre, unsere gemeinsame Heimat könne in Ermangelung von Bodenschätzen oder anderer Reichtümer auf nichts setzen als auf die Bildung der jungen Menschen. Und? Soll so Ihre Wissensgesellschaft aussehen?

Manchmal muss ich schmunzeln...

Ich beginne am Fortschritt zu zweifeln. Es ist lange her, dass ich von den Schulen verlangte, das "Lernen des Lernens" zu üben. Und dass ich die Lehrer daran erinnerte, dass es ihre Aufgabe ist, sich nach und nach überflüssig zu machen. Ich hoffte, Sie hätten verwirklicht, was mir nur vorschwebte. Doch selbständiges Arbeiten, Recherchieren und Präsentieren der Schüler ist auch in Ihren Schulen die Ausnahme. Eine große Vielfalt an Erfahrungen ist nötig, um sich zu bilden. Zum Experimentieren, Erfinden, Forschen und Reisen kommen Ihre Schüler aber nur selten. Selbst Studenten haben dafür kaum noch Zeit. Manchmal muss ich schmunzeln, werte Kollegen, dass ich noch immer Deutschlands berühmtester Kultusminister bin. Ich war doch nur 16 Monate im Amt - und das ist 200 Jahre her! Genau genommen war ich nicht mal ein richtiger Minister, sondern dem preußischen Innenminister unterstellt. Wäre das heute noch so geregelt, säßen Sie, Herr Zöllner, in Berlin am Katzentisch von Innensenator Körting. Und Sie, Herr Schneider, wären in Bayern ein Untergebener von Herrn Herrmann. Stellen Sie sich das mal vor!

Eigentlich sind Sie also sehr viel besser dran als ich zu meiner Zeit, in der Napoleon durch Europa zog. Sie haben mehr Macht und höhere Etats. Ihr Staat ist stabil. Es findet sich in Ihren Parteien auch immer sofort jemand, der gerne Ihren Job übernehmen würde. Dennoch jammern Sie auffallend. Sie sind empört, wenn Ihnen die OECD blaue Briefe schickt und den schlechten Zustand des Bildungssystems anprangert. Sie sind verschnupft, wenn Eltern sich über das G8 aufregen und die Lehrer sich über zu große Klassen beschweren. Was erwarten Sie eigentlich? Dass man Sie auch auf einen Sockel stellt?

Den Analphabetismus haben Sie nicht besiegt

Sie haben Verdienste, keine Frage. Ich will auch nicht sagen, zu meiner Zeit sei alles besser gewesen. Vieles war sehr viel schlechter. Es war sogar schaurig: Die wenigsten Kinder besuchten eine ordentliche Schule, an den Universitäten trieben sich Scharlatane und Trunkenbolde herum, unsere Lehrer bekamen oft wochenlang keinen Lohn.

Heutzutage ist alles genau geregelt, und alle besuchen eine Schule (wenn sie nicht gerade schwänzen) und viele eine Universität. Den Analphabetismus haben Sie dennoch nicht besiegt. Jeder fünfte Jugendliche scheitert beim Lesen und Rechnen an einfachen Aufgaben. Als Minister sind Sie stolz darauf, dass die Pisa-Werte, um die bei Ihnen so viel Gewese gemacht wird, schon etwas besser geworden sind. Aber die Macht des Ständischen in der Bildung, gegen die ich kämpfte, Sie haben sie immer noch nicht überwunden.

Zu meiner Zeit besuchten nur sehr wenige Kinder ein Gymnasium. Deshalb glauben viele, sie könnten sich auf mich berufen, wenn sie den Pöbel fernhalten wollen vom Gymnasium. Von Pöbel traut sich natürlich niemand zu sprechen. Sie reden von Schülern, die "weniger leistungsstark" sind oder "eher handwerklich als theoretisch begabt".

Sie testen Zehnjährige?

Stimmt es, dass Sie das schon bei Zehnjährigen testen? Ich wusste gar nicht, dass Sie in der Grundschule prüfen, wie gut Schüler später klempnern, malern, backen und wie gut sie wissenschaftliche Aufsätze verfassen können. Verzeihung: Sind Sie noch bei Trost?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Humboldt über die Schulformen in Deutschland denkt.

Sehr geehrte Kultusminister!

Ich habe immer gesagt, jede Beschäftigung vermag den Menschen zu adeln, wenn er sie leidenschaftlich betreibt. Nicht jeder wird sein Glück im Studium finden, und Akademiker haben keinen Grund, auf Handwerker herabzublicken. Ich wundere mich aber maßlos darüber, dass Sie schon Zehnjährige in eine Richtung drängen, in der diese sich einrichten müssen, wenn sie in der vierten Klasse womöglich eine problematische Zeit gehabt haben. Ich habe, liebe Kollegen, Schüler gesehen, die schon in der dritten Klasse Angst haben, zu versagen und auf eine Hauptschule zu kommen.

Mein Königsberger Schulplan

Da musste ich daran denken, was ich in meinem "Königsberger Schulplan" notierte. Es sei nicht sinnvoll, schrieb ich, die Schüler, die später keine akademische Laufbahn einschlagen werden, in gesonderte Mittelschulen zu schicken: "Da die Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt, so bringen sie den Nachteil hervor, dass leicht Verwechslungen vorgehen, der künftige Gelehrte zu lange in Mittelschulen, der künftige Handwerker zu lange in gelehrten verweilt, und daraus Verbildungen entstehen."

Sicher halten Sie mich für naiv, weil ich stets an die Allgemeinbildung denke und so vielen Menschen so viel Bildung wie möglich wünsche. Einerseits freut es mich, wenn ich sehe, wie viele junge Menschen heute in die Universitäten strömen. Andererseits herrscht dort ein Massenbetrieb, der das freie Forschen erdrückt. Das Brotstudium ist allgegenwärtig, und der Unterricht in den Schulen und Universitäten verkommt heute zur Aufwärmübung für die Karriere. Die Verzweckung der Bildung ist mir zuwider. Ich mag nicht akzeptieren, dass die Schulen und ihre Abschlüsse vor allem dazu dienen, Berufswege zu ebnen und einen sozialen Status zu verleihen. In meinen Schulplänen habe ich daher betont, dass man nicht lauter verschiedene Schularten benötigt. Ich habe nur drei Stufen unterschieden: den Elementar-, den Schul- und den Universitätsunterricht.

Kein Wunder, dass Sie so angestrengt schauen

Ich bin verwirrt, wie viele Schulformen es heute in Deutschland gibt. Sie haben neben den Gymnasien nicht nur Sonderschulen, Hauptschulen und Realschulen, sondern auch Gesamtschulen, Mittelschulen, Regelschulen, erweiterte Realschulen, Sekundarschulen, Regionale Schulen, Oberschulen, Wirtschaftsschulen, Werkrealschulen, Gemeinschaftsschulen, verbundene und integrierte Haupt- und Realschulen. Kein Wunder, werte Kollegen, dass Sie immer so angestrengt schauen, wenn Sie in Ihrer sogenannten Kultusministerkonferenz zusammenkommen.

Eduard Spranger, dessen Werken ich viel von meinem nachhaltigen Ruhm verdanke, hat mich ganz zutreffend als Vertreter einer "Einheitsschule" dargestellt. Trotzdem zucke ich zusammen, wenn jemand von Ihnen den Gymnasien den Kampf ansagt und von einer Einheitsschule träumt. Ich träume auch gern, aber ich will nicht am Ende ein böses Erwachen erleben. Wenn Sie in Deutschland die Gymnasien abschaffen, werden Sie dann gute finnische oder elende amerikanische Einheitsschulen erhalten?

Sie werden verstehen, dass ich am Gymnasium hänge und darauf bestehe, dass es Schulen gibt, in denen die Kinder Latein und Griechisch lernen, auch wenn oder gerade weil das alt und fremd wirkt in Ihrer geschäftigen, globalisierten Welt. In diesem Punkt können Ihre Bildungsstätten ruhig etwas altmodisch sein. Ihre Modernität sollten sie lieber dadurch beweisen, dass auch solche Kinder höhere Schulen besuchen, deren Eltern mit meinem Namen oder mit Cicero und Ovid nichts anzufangen wissen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Humboldt den heutigen Bildungsministern rät und wie diese Geschichte schreiben können.

Sehr geehrte Kultusminister!

Schulleiter brauchen mehr Macht und Mittel

Werte Kollegen, Sie beteuern oft, die individuelle Förderung sei entscheidend. Sie wissen, wie wichtig mir Individualität ist. Wenn Ihre Schulen Lernateliers werden sollen, in denen jeder Schüler seine Talente entfalten kann, müssen Sie ihnen aber die dafür nötigen Freiräume und Ressourcen geben. Die Schulleiter brauchen mehr Macht und Mittel, ihre Schulen zu gestalten. Sie brauchen hervorragende Verwaltungskräfte und die Freiheit, Lehrer, pädagogische Assistenten und Hononarkräfte einzustellen. Sie sollen Künstler engagieren und Handwerkern Aufträge erteilen können.Der Unterricht müsste sich lösen vom immer gleichen Takt der Stunden und Lehrpläne, er sollte offen sein für verschiedene Lernwege, Übungen und Recherchen. Der Schüler würde zum eigenen Herrn seines Lernprozesses.

"Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit": Mir gefallen, verzeihen Sie mir diese Eitelkeit, meine eigenen Zeilen immer noch ganz gut.

Jubeln, wenn nur noch 30 Schüler in einer Klasse sitzen?

Um individuelles Fördern und lebendiges Unterrichten möglich zu machen, brauchen Sie gute Lehrer. Und viele Lehrer. Sie brauchen Pädagogen, die das selbständige Lernen der Schüler begleiten und die Kinder ermutigen und ertüchtigen, eigene Wege zu gehen. Typischerweise kurz vor oder kurz nach Wahlen kündigen Sie an, mehr Lehrer einzustellen. Ich habe ja wenig Erfahrungen mit Ihrer Demokratie, aber in meine Bewunderung mischt sich Befremden. Wenn Sie ankündigen, tausend neue Lehrer einzustellen, klingt das erst einmal gut. Wenn dies aber bedeutet, dass statt 33 "nur" noch 30 Schüler in der Klasse sitzen, soll man dann jubeln?

Natürlich, es gab schon Zeiten, da saßen 50 oder 70 Schüler in einer Klasse. Es geht immer alles irgendwie. Aber wer es sich leisten kann, nimmt dann exklusiven Privatunterricht. Ich selbst bin ein Günstling meines Standes und war Zögling von Privatlehrern.

Die Lehrer, die Sie einstellen wollen, finden Sie noch nicht einmal; es fehlen Ihnen die Bewerber. Kein Wunder, denn Sie stellen Lehrer ein (oder lassen es) in einer Beliebigkeit, die mich als alten preußischen Planer zuhöchst erstaunt. Und es wird nicht besser dadurch, dass jeder von Ihnen seinen eigenen kleinen Lehrerarbeitsmarkt hat und die Studiengänge nach eigenem Gusto reformiert. Ich dachte, Deutschland sei jetzt ein Land. Ich weiß schon: die Kulturhoheit. Der Begriff könnte glatt von mir stammen. Aber muss man gleich niederknien vor Ihrer Kulturhoheit?

Sonst treten Sie kollektiv zurück

Ein anderes leidiges Thema ist das Geld. Ich glaube zwar nicht, dass es ausreicht, einfach mehr Geld in die Schulen und Universitäten zu stecken. Aber dass Sie, gemessen am Reichtum Ihrer Gesellschaft, zu wenig für die Bildung ausgeben, das wissen Sie doch selber.

Dann hauen Sie doch mal richtig auf den Putz! Stellen Sie sich vor: Sie, die Kultusminister aller 16 Länder, Sie alle treten gemeinsam vor die Presse. Sie halten ein Programm hoch, in dem steht, wie Sie aus den Schulen und Universitäten die glanzvollsten Orte des Landes machen. Und dann präsentieren Sie die Rechnung. Sie bestehen darauf, dass sie beglichen wird. Sonst treten Sie kollektiv zurück. Sie könnten Geschichte schreiben!

Mit kollegialen Grüßen,

Ihr Wilhelm von Humboldt

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