Nichtstun als Errungenschaft:Lob der Langeweile

Langeweile gehört heute durch Animation verscheucht - besonders im Urlaub. Doch sie ist eine Errungenschaft - eine "Windstille der Seele, die der glücklichen Fahrt vorausgeht."

Matthias Drobinski

Der Höhepunkt der Sommerferien: Der war dieses Wochenende. Die Bayern packten ihre Autos voll und fuhren nach Süden, die Hessen und Rheinland-Pfälzer packten im Süden die Autos voll und fuhren nach Hause; bei den anderen war nach drei Wochen Bettenwechsel.

Nichtstun als Errungenschaft: Sonnenuntergang am Brombachsee in Bayern.

Sonnenuntergang am Brombachsee in Bayern.

(Foto: Foto: ddp)

Im Stau oder im Gedränge auf den Flughäfen und Bahnhöfen hätten sie sich im Vorbeireisen zurufen können: Braun geworden? Braun geworden! Erholt? Erholt! Spaß gehabt? Jede Menge! Andere Antworten wären eine Niederlage: Wer ungebräunt und unbespaßt zurückkommt, hat versagt. Höchste Zeit also, das hohe Lied der Langeweile zu singen.

Nicht die Muße, die schöne Schwester

Der Langeweile? Das Loblied auf diesen kratzenden Seinszustand, in dem es einen juckt, dass man nicht weiß, ob man sitzen, stehen oder liegen soll? Der den Tag zum Kaugummi macht, die Uhr verklebt, Kinder unerträglich quengeln lässt? Gehört das Lob nicht der Muße, der schönen Schwester der Langeweile? Nein, es geht diesmal nicht um die Muße.

Muße gibt es inzwischen zu kaufen wie den Spaß: den Spaß im Supermarkt, die Muße, sagen wir, bei Manufactum, zu gehobenem Preis, Sauna, Wellness und die fünf angesagtesten Bücher inklusive. Die Muße ist nun auch in den Dienst des allgemeinen Kampfes gegen die Langeweile gestellt.

Das Doppelgebot dieses Kampfes heißt: "Du sollst nicht langweilen!" Und: "Du darfst dich nicht langweilen!" Man darf ein Schuft sein, aber kein Langeweiler, muss interessant wohnen, sich aufregend kleiden und anregend reden; es ist eine so sanfte wie gnadenlose Diktatur des Unterhaltsamen entstanden.

Für die Langeweile ist kein Platz mehr, sie gehört verscheucht, vor allem dann, wenn wir frei haben, und ganz besonders wenn Urlaub ist, durch die professionelle Animation oder die nicht weniger aufdringliche Selbstanimation: Was machen wir heute? Selbst das Nichtstun wird Teil des ausgeklügelten Machen-Plans, es muss zu etwas dienen und auf keinen Fall langweilen. Es ist wie beim Kampf gegen Pocken und Beulenpest: Das Übel soll verschwinden aus der Welt.

Langeweile, eine zivilisatorische Errungenschaft

Dabei gehört die Langeweile zu den ersten zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit. Sie kam in die Welt, als sich die Steinzeitmenschen satt vor ihre Höhle setzten, rülpsten und dachten: Was nun? Und sie die eigene Existenz zu jucken und zu kratzen begann.

Ohne Langeweile hätten die Griechen nie die Olympiade erfunden; Langeweile war das Privileg derer, die nicht fürs Überleben schuften mussten, der Könige und Adligen, die auch mal aus Langeweile Krieg begannen - unschuldig ist der Zustand des Unerfülltseins nicht. Die Langeweile war das Gefühl des 18. und 19. Jahrhunderts, am besten hat sie Georg Büchner in seinem Lustspiel "Leonce und Lena" beschrieben, in der unendlichen Langeweile, der Ennui des Prinzen Leonce vom Königreiche Popo und seines bewegungs- wie geistlosen Hofstaates.

Wilhelm Genazino, der Meister der Ironie, hat 170 Jahre später - als er 2004 den Büchner-Preis erhielt - gesagt: "Bei Büchner wird Langeweile nicht vertrieben, sondern angenommen", und das sei der entscheidende Unterschied zur verscheuchten Langweile von heute. "Lasst die Finger weg von unserer Langeweile!" ruft er den "Fernsehdirektoren, Eventdenkern, Kaufhauschefs" zu. "Sie ist unser letztes Ich-Fenster, aus dem wir noch ungestört, weil unkontrolliert in die Welt schauen dürfen!" Darum geht es. Das Unerfüllte und Sehnsüchtige ist ein Fenster zum Ich, doch eine allumfassende Erfüllungsindustrie sorgt dafür, dass man es nicht mehr öffnen kann.

Mut zur Langeweile!

Dabei lässt sich die Langeweile gar nicht dauerhaft verscheuchen. Sie flattert höchstens auf wie eine hungrige Krähe, um sich alsbald wieder niederzulassen. Jedesmal wird die Mühe größer, sie noch ein bisschen zu erschrecken, und am Ende hockt der ganze Schwarm da. Wer das juckend Unerfüllte immer nur verscheucht, wird also bald von noch größerer Langeweile geplagt. So wie einer, der immer die Traurigkeit aus seinem Leben drängt, nicht fröhlich wird, sondern depressiv. Vielleicht ist die grassierende Langeweile der Kinder ein Reflex auf die Verdrängung der Erwachsenen. Sie quengeln um Aufmerksamkeit und nicht um Ablenkung, um die Befreiung vom Überangebot und nicht, weil sie ein neues Nintendo-Spiel wollen.

Deshalb: Mut zur Langeweile! Sie ist bei Büchner wie zur Ferienzeit subversiv; damals entlarvte sie gnadenlos die Hohlheit des Duodez-Absolutismus und rief die Gedankenpolizei auf den Plan, heute lässt sie der Unterhaltungsdiktatur die Luft raus, dass nur die schrumpelige Hülle bleibt. Man kann sich die Langeweile nicht vornehmen: Heute langweilen wir uns, Schatz! Nein, man muss sie kommen und bleiben lassen können. Auf einmal ist sie da. Sie kratzt und juckt, erzeugt Überdruss, zunächst einmal ist sie überhaupt nicht schön. Dann aber weckt sie die Sehnsucht, sie macht das Unerfüllte bewusst, und nur so kann Neues keimen. Das ist ja das Eigentümliche dieses Zustands: Er ist, wie Friedrich Nietzsche sagte, "jene unangenehme Windstille der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht".

Und wer die Windstille der Seele nicht kennt, kann auch nicht zur glücklichen Fahrt aufbrechen.

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