Nationale Bildungsstudie:Die große Anklageschrift

Migrantenkinder und Schüler aus bildungsfernen Familien brauchen besondere Förderung. Warum, das zeigt die Analyse des Schulvergleichs. Die Studie im Detail.

Tanjev Schultz

Warum ein Land besser abschneidet als ein anderes, darüber schweigen die Bildungsforscher. Wieder einmal sind Bayern und Baden-Württemberg bei einem nationalen Schultest auf Spitzenplätzen gelandet. Die Leistung hat in diesen Ländern schon immer eine große Rolle gespielt, aber was ihren Erfolg genau begründet, lässt die Untersuchung offen. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit etwa 40.000 Neuntklässler aller Schulformen in Deutsch und Englisch getestet. Die Studie, die vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Berliner Humboldt-Universität betreut wurde, löst das Pisa-Ranking der Bundesländer ab. In der Analyse geht sie über einfache Ranglisten hinaus.

Leistungsgefälle zwischen und in den Bundesländern

Bayerische Schüler sind den Jugendlichen in Bremen teilweise bis zu zwei Schuljahre voraus. Aber auch innerhalb jedes Landes gibt es ein starkes Leistungsgefälle, das auch die verschiedenen Lernmilieus in Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien widerspiegelt. In Bremen und Berlin ist der Abstand zwischen guten und schwachen Schülern am größten. In Englisch und Deutsch verfehlen teilweise mehr als 20 Prozent die Mindestanforderungen, die die Kultusminister gesetzt haben.

Starke Gymnasien

Gymnasiasten schneiden erwartungsgemäß überdurchschnittlich gut ab. Im Lesen liegen die sächsischen Gymnasiasten knapp vor Bayern, in Orthographie liegen die Saarländer mit den Bayern gleichauf. Betrachtet man alle Schulformen, bilden Bayern und Baden-Württemberg aber klar die Spitzengruppe. Der Anteil der Gymnasiasten in einem Jahrgang unterscheidet sich von Land zu Land, im Süden und in Schleswig-Holstein ist er besonders gering. Die Studie fand dazu ein Muster: Je mehr Schüler eines Jahrgangs Gymnasien besuchen, desto schlechter sind die Gesamtergebnisse des Bundeslandes. Möglicherweise fehlen den anderen Schultypen dann die Leistungsträger. Es gibt aber Ausnahmen. Hamburg hat viele Gymnasiasten - und die Werte in Englisch sind insgesamt recht gut.

Vergleich von G8 und G9

In den meisten Bundesländern befanden sich die untersuchten Neuntklässler im achtstufigen Gymnasium (G8), in vier Ländern jedoch noch im neunstufigen Gymnasium (G9). Die Verkürzung der Schulzeit verlief nicht reibungslos, viele Eltern beklagen die Stofffülle im G8. Die neue Studie konnte jedoch keine bedeutsamen Unterschiede in den Leistungen finden.

Leistungen in Französisch

In sechs Bundesländern, in denen etliche oder alle Schüler als erste Fremdsprache Franzöisch haben, wurden auch dazu Tests durchgeführt. Die Gruppen sind aber so unterschiedlich zusammengesetzt, dass die Forscher auf ein Ranking verzichtet haben. Insgesamt schneiden die Schüler in Französisch recht gut ab; oft handelt es sich bei diesen Jugendlichen um Gymnasiasten.

Schwache Buben

In allen Bereichen der Fächer Deutsch, Englisch und Französisch schnitten Mädchen im Durchschnitt besser ab als die Buben. Am größten ist der Leistungsvorsprung der Mädchen in der Rechtschreibung. Zum Teil liegt das auch daran, dass mehr Mädchen ein Gymnasium besuchen als Buben.

Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leistungen

Kinder von wohlhabenden Eltern und von Akademikern haben es in der Schule leichter. Ihre Leistungen sind im Durchschnitt besser als die der Kinder aus (bildungs-)armen Familien. Auch die neue Studie belegt diesen Zusammenhang. Dabei bildet Berlin einen Ausreißer nach oben: In der Hauptstadt hängen die Leistungen besonders stark vom sozialen Status der Familie ab. In Schleswig-Holstein, Sachsen und Brandenburg sind die Werte dagegen vergleichsweise gut, das bedeutet: Dort wird die Leistung der Jugendlichen weniger stark beeinflusst von ihrer sozialen Herkunft.

Chancen, ein Gymnasium zu besuchen

Die Wissenschaftler haben auch untersucht, wie groß die Aussichten eines Arbeiterkindes sind, ein Gymnasium zu besuchen. Bundesweit liegen die Chancen 7,8 Mal schlechter als die eines Kindes der "oberen Dienstklasse". In Bayern sind die Aussichten sogar 13,9 Mal schlechter, in Baden-Württemberg 9,6 Mal schlechter. Zu dieser oberen Dienstklasse zählen die Soziologen führende Angestellte, leitende Beamte, freiberufliche Anwälte und Ärzte, Gymnasiallehrer, Professoren und Unternehmer mit mindestens zehn Mitarbeitern. In einem zweiten Schritt haben die Wissenschaftler dann die Wahrscheinlichkeiten berechnet, nachdem sie die Leseleistungen statistisch kontrolliert hatten. Das Ergebnis: Selbst bei gleich guten Leseleistungen hat das Kind eines Facharbeiters eine 4,5 Mal so geringe Aussicht, auf das Gymnasium zu gehen. Am deutlichsten ist das Ungleichgewicht auch hier wieder in Bayern (6,6 Mal geringere Chancen) und in Baden-Württemberg (6,5 Mal geringer).

Defizite von Migranten

Kinder, deren Eltern oder die selbst im Ausland geboren wurden, schneiden im Durchschnitt schlechter ab als andere Schüler. Vor allem Jugendliche türkischer Herkunft kommen auf vergleichsweise schlechte Werte, Schüler aus Polen und dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion können dagegen besser in der Schule mithalten. Unter anderem in den Bundesländern Hamburg und Bayern ist der Leistungsrückstand von Migranten im Lesen überdurchschnittlich groß. In Berlin ist er am größten. In Englisch sind die Unterschiede insgesamt etwas geringer. Den Kindern von Migranten fällt es im Fach Englisch offenbar leichter, das Niveau ihrer Mitschüler zu erreichen.

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