Mindestgröße für Polizisten:Wenn der Daumen zu kurz für die Maschinenpistole ist

Drei Tote nach Schüssen in Wohnhaus

Bei Einsätzen wie Amokläufen tragen Polizisten über Stunden 25 Kilo schwere Schutzausrüstung. Kleinere Beamte müssten deshalb besonders fit sein, sagt ein Polizeiarzt.

(Foto: dpa)

In NRW streiten Polizei und Bewerber vor Gericht über eine Mindestgröße für Beamte. In Bayern entscheidet ein Polizeiarzt - unsere Autorin würde er nicht einstellen.

Von Larissa Holzki

Wer bei der Polizei Karriere machen will, muss in den meisten Bundesländern eine bestimmte Körpergröße erreichen. Immer wieder klagen abgelehnte Bewerber dagegen. Verwaltungsgerichte in Nordrhein-Westfalen hatten ihnen zuletzt recht gegeben. Doch die Landespolizei will nicht nachgeben, heute muss sich deshalb in einem Berufungsverfahren das Oberverwaltungsgericht in Münster mit der Mindestgröße befassen. Kleine Menschen hätten nicht die nötige körperliche Präsenz und Leistungsfähigkeit für die Aufgaben im Polizeidienst, lautet die Begründung der Polizei. Aber stimmt das? Oder hat die Ablehnung kleiner Kandidaten ganz andere Gründe?

In Bayern gilt keine starre Grenze, alle Polizeidienstanwärter, die kleiner als 1,65 Meter sind, müssen aber einen speziellen Test machen, den der Arbeitsmediziner Christian Kühl vom polizeiärztlichen Dienst und ein Polizist entwickelt haben. "Wir können nicht sagen, völlig unabhängig von der Größe ist jeder gleichermaßen geeignet", sagt Kühl, aber ausschließen, dass auch kleine Menschen gute Polizisten werden können, wolle er auch nicht: Wer beweisen kann, dass er sehr starke Hände hat, im Sporttest besonders gut abschneidet und keine alten Verletzungen oder körperlichen Einschränkungen hat, die ihn künftig beeinträchtigen könnten, wird zur Einstellungsprüfung zugelassen.

Die abstrakten Kriterien haben Kühl und sein Kollege aus dem Polizeivollzugsdienst über Jahre aus Tests mit kleinen - meist weiblichen - Bewerbern heraus entwickelt. Dazu haben sie verschiedene Szenarien nachgespielt, die im Polizeidienst vorkommen und für kleinere Polizisten eine besondere Herausforderung darstellen könnten. Auch die Autorin - kaum 1,65 Meter groß - musste sich einem Teil dieser Aufgaben stellen.

Handgreiflichkeiten vor der Dorfdisko

Sieben Männer geraten vor einer Disko im ländlichen Raum in Streit und prügeln aufeinander ein - kein seltener Fall für ein Polizeistreifenpaar. "Nur weil die Polizisten da sind, sagen die Männer nicht, okay, wir hören auf zu streiten", sagt Kühl. Aber es könne durchaus eine Viertelstunde dauern, bis Unterstützung kommt. Deshalb hätten sein Kollege und er sich die Frage gestellt: "Gelingt es der 1,63 Meter großen Polizistin, die vielleicht 50 Kilo wiegt, sich körperlich so einzusetzen, dass sie Handschellen anlegen kann?"

Im Test zeigt sich: Mit kleinen Händen ist es deutlich schwieriger, die Handschelle mit einer Hand festzuhalten und am Arm einer anderen Person einzurasten. Die Reifen schlackern im ersten Versuch stark hin und her. Aber die andere Hand wird zum Festhalten des Handgelenks benötigt. Und auch das ist ein Problem: Handfläche und Finger sind zusammen kaum lang genug, um einmal um die schmalste Stelle am Handgelenk des Polizeiarztes zu greifen. Der sitzt ganz still und lässt die Versuche über sich ergehen. "Wenn ein kräftiger Mann sich dem entziehen will, kommt er auch los", sagt Kühl.

Pistole und Maschinenpistole bedienen

Waffen sind für Männerhände konstruiert, zumindest die der Polizei. Dazu gehören etwa 7000 einheitliche Maschinenpistolen, mit denen die Mannschaftswagen ausgestattet sind. Im Einsatz muss jeder und jede damit umgehen können. Das Laden, Spannen und Entsichern des gegenwärtig verwendeten Pistolenmodells und der Langwaffe gelingt den Erfahrungen der Polzei Bayern zufolge Menschen mit kleineren Händen nur dann, wenn sie mindestens 25 Kilo Handkraft aufbringen.

Das ist allerdings nicht die einzige Herausforderung. Um die Maschinenpistole zu entsichern, muss man mit dem Daumen einen Hebel an der Seite der Langwaffe erreichen. Gelingt das nur knapp, lässt sich der nötige Druck nicht aufbringen. Der eher kleinen Reporterin gelingt das zwar, aber nur gerade so und erst im dritten Anlauf mit den Tipps eines Polizisten. Auch viele der Testkandidatinnen hätten sich damit schwergetan, sagt Kühl.

Wenn der erste Versuch nicht gelinge, sei das noch kein Problem, sagt der Polizeimediziner. "Aber es muss sich abzeichnen, dass es mit ein bisschen Übung auch in enormen Stresssituationen möglich ist und nicht nur mit Ach und Krach."

Schutzausrüstung wiegt etwa 25 Kilo

Die bayerische Polizei bereitet sich auch auf Terrorlagen vor. Und auch in Einsätzen wie beim Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum müssen die Polizisten Schutzausrüstung tragen, die gegen Geschosse aus Maschinenpistolen vor tödlichen Verletzungen schützt. "Das Gewicht beträgt fast unabhängig von der Körpergröße etwa 25 Kilo", sagt Kühl. Das heißt: Kleine Polizisten schleppen die Hälfte ihres Körpergewichts mit sich herum, große vielleicht nur ein Viertel. "Im Verhältnis müssen kleinere Polizeidienstanwärter deshalb deutlich fitter sein als große", sagt Kühl.

Drei Jahre lang haben Kühl und sein Kollege mit Polizeidienstanwärtern solche Situationen simuliert und versucht, die Anforderungen zu abstrahieren: "Es hat sich gezeigt, dass Kandidaten, die alle Aufgaben gut gemeistert haben, regelmäßig auch 29 Kilo mit jeder Hand zusammendrücken können und im Sporttest mit 2,5 oder besser abschneiden", sagt Kühl. Für die Messung der Handkraft wird ein Gerät verwendet, an dem ein Griff und ein Belastungsmesser - etwa im Abstand einer Männer-Handgelenkbreite - zusammengepresst werden müssen. Die Anzeige bleibt bei der untrainierten Reporterin bei knapp 25 stehen. Das deckt sich mit den doch eher kläglichen Lade- und Entsicherungsversuchen an der Maschinenpistole.

Bedingungen ließen sich ändern, aber dazu "ist man nicht gewillt"

Inzwischen kommen pro Jahr etwa 700 Interessenten und Interessentinnen zu Kühl. Zu viele, um mit jedem von ihnen Polizeieinsätze nachzustellen und sie einzeln an der Waffe zu testen. Deshalb gelten die von Kühl genannten Werte als Zulassungskriterien zum regulären Einstellungstest. Etwa jeder Zehnte nimmt diese Hürde und muss dann mit allen anderen Aspiranten noch mal zum Test.

Hochmotiviert und außerordentlich sportlich

Im regulären Einstellungsverfahren wird die Handkraft nicht getestet. Die Bewerber müssen ihre Sportlichkeit beweisen - unter anderem im Bankdrücken, Laufen und Schwimmen, dabei reicht bei den größeren Anwärtern die Note 4,5 auf der Schulnotenskala zum Bestehen. Außerdem werden Sprache, Denkvermögen und soziale Kompetenz getestet. Bei aussichtsreichen Ergebnissen wird zudem ein Gesundheitscheck durchgeführt. Auch dabei schaut der Mediziner Kühl bei den kleineren Bewerbern genauer hin. "Sie haben durch die geringe Größe schon einen Nachteil und wenn dazu noch ein verletzungs- oder anlagebedingter Nachteil kommt, dann addiert sich das", sagt er zur Begründung.

Am Ende des Verfahrens stellt die Polizei die besten 1700 der etwa 8500 Bewerber ein - darunter sind vielleicht 30, die kleiner als 1,65 sind, schätzt Kühl. Diese seien hochmotiviert und außerordentlich sportlich.

Christian Kühl hat bei den Tests schon viele Tränen kullern sehen, wenn Menschen ihren Berufstraum buchstäblich am Abzug entgleiten sahen. Er weiß, dass die Einstellungsbedingungen nicht gerecht sind. Aber er gibt zu bedenken: "Der Staat muss gewährleisten, dass jemand, der die Polizei ruft, von den eintreffenden Polizisten auch die erwartete Hilfe bekommt und dass die Polizisten - die kleineren und ihre Kollegen - gesund aus den Einsätzen zurückkommen", sagt er.

Bedingungen sind änderbar - theoretisch

Dem kann man entgegenhalten, dass individuelle Ausrüstung und Waffen, die auch mit zierlichen Händen bedienbar sind, langfristig durchaus eine Möglichkeit wären, auch kleinere Menschen im Polizeidienst einzusetzen - vorausgesetzt, es werden Konzepte entwickelt, die eine Individualisierung der Ausstattung ermöglichen und Finanzierungsmittel dafür bereitgestellt.

Und auch strukturelle Änderungen könnten mehr Menschen zur Polizei bringen: Der Grundsatz müsste fallen, dass jeder Polizist in jeder Lage einsatzfähig sein soll. Denkbar wäre ein Modell ähnlich des Musterungsverfahrens bei der Bundeswehr. Dabei ließe sich testen, für welche Einsatzgebiete ein Bewerber geeignet ist. Eine zierliche Bewerberin könnte dann beispielsweise Präventionsarbeit machen, zur Wasserschutzpolizei gehen oder in die Presseabteilung, in der Polizeikette eine Großveranstaltung absichern müsste sie nicht. Aber: "Diese Maxime aufzuweichen, hätte einen riesen Haufen Konsequenzen, die man gegenwärtig nicht angehen will", sagt Christian Kühl.

Körperlich weniger anspruchsvolle Tätigkeiten für Polizisten sollen auch deshalb nicht an junge und eingeschränkt einsatzfähige Kandidaten vergeben werden, damit Polizisten bei Schicksalsschlägen ein Arbeitsplatz sicher ist, sagt Kühl: "Wenn ein Polizist bei einem Motorradunfall ein Bein verliert, muss auch bei eingeschränkter Verwendungsfähigkeit eine sinnvolle Tätigkeit vorhanden sein." Manchmal werden Polizisten im Laufe ihrer Karriere aber auch einfach ein bisschen unsportlicher. Bei der bayerischen Polizei wird das nach dem Einstellungstest nicht mehr überprüft.

Ob Polizeibehörden auch künftig kostengünstig nach traditionellem Verfahren einstellen und besetzen können, wird auch die heutige Gerichtsentscheidung vor dem Oberverwaltungsgericht Münster zeigen. Dort soll heute verhandelt werden, ob die Mindestgröße generell und die unterschiedlichen Maße nach Geschlecht vertretbar, ja möglicherweise sogar notwendig sind oder doch eine Diskriminierung darstellen (Aktenzeichen 6 A 916/16). In Nordrhein-Westfalen gelten unterschiedliche Mindestgrößen für Männer (1,68 Meter) und Frauen (1,63 Meter) als Voraussetzung für die Einstellung in den Polizeidienst. Ein Mann, der wegen weniger als zwei fehlender Zentimeter abgelehnt wurde, hatte dagegen geklagt und vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen recht bekommen. Die Landespolizei hatte dagegen Berufung eingelegt. Die SZ berichtet.

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