Sexuelle Belästigung in Unternehmen:Für den Job schweigen fast alle

Studie: Trend zu mehr Gleichberechtigung stockt

Wenn sich Männer und Frauen am Arbeitsplatz begegnen, wird ihr Verhältnis von den Machtstrukturen des Unternehmens geprägt.

(Foto: dpa)

Sexuelle Belästigung ist allgegenwärtig und kommt wohl in fast jedem Unternehmen vor. Dennoch beschweren sich Betroffene fast nie.

Von Larissa Holzki

Alfred Dierlamm weiß, welcher Mitarbeiter stinkt. Ihm kommt zu Ohren, wer den Pausenraum vollqualmt. Und er erfährt, wenn jemand klaut oder lügt. Seine Handynummer und ein Foto von ihm hängen in jeder Filiale einer bekannten deutschen Handelskette: Wer beobachtet, dass ein Mitarbeiter gegen Recht oder Richtlinien verstößt, solle sich beim Ombudsmann melden, steht dabei. Der Vertrauensanwalt darf niemandem sagen, wer sein Informant ist, und nur weitergeben, was dieser freigibt.

Seit Wochen erzählen Frauen und Männer im Netz und in Teeküchen, dass Kollegen und Vorgesetzte sie auf ihren knackigen Hintern angesprochen hätten; Auszubildende berichten, wie sie den Atem ihres Chefs im Nacken spürten. Sexuelle Belästigung kommt, der Eindruck entsteht, in mehr oder minder schwerer Form in fast jedem Betrieb vor. Ein Missstand, der dringend behoben werden müsste.

Aber bei Alfred Dierlamm hat sich niemand mit einem solchen Anliegen gemeldet - in fünf Jahren nicht. Dabei rufen ihn bis zu 150 Angestellte im Jahr an, weil sie glauben, dass er helfen kann. Sie wollen Schaden vom Arbeitgeber abwenden, Kolleginnen anschwärzen oder wissen, wie sie mit dem Duschverweigerer umgehen sollen. Gegen sexuelle Belästigung aber unternimmt man offenbar lieber nichts.

An die Antidiskriminierungsstelle des Bundes etwa kann sich jeder wenden, ohne dass eine Verbindung zwischen Arbeitgeber und Beratern entstünde. Trotzdem wurden seit Gründung der Institution vor elf Jahren nur 400 Vorfälle gemeldet.

Bei VW bieten Kollegen Hilfe zur Selbsthilfe an

Ein anderes Angebot macht Volkswagen. Der Autokonzern schult freiwillige Monteure, Finanzcontrollerinnen und Marketingexperten in Fragen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. "Sie lernen von Juristen, welches Verhalten unzulässig ist und was Betroffene in ihrer Situation unternehmen können", sagt Personalerin Sabine Unger. "Das sind Kolleginnen und Kollegen wie du und ich, die man niedrigschwellig ansprechen kann und die zu Verschwiegenheit verpflichtet sind." Ob und wie viel Beratung zu sexueller Belästigung gewünscht wird, erhebt VW nicht. Unger ist jedoch kein Fall aus den vergangenen Jahren bekannt, in dem ein Betroffener sich daraufhin an seine Vorgesetzten gewandt hätte.

Arbeitgeber sind verpflichtet, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu unterbinden. Sie haben dafür Mittel: Das Strafgesetz sieht für sexuelle Übergriffe und Nötigung Freiheitsstrafen vor. Arbeitsrechtliche Möglichkeiten reichen bis zur fristlosen Kündigung. Viele Konzerne haben zudem Verhaltenskodizes aufgesetzt, die über das Gesetz hinausgehen - bei Volkswagen müssen neue Mitarbeiter dessen Kenntnis in einem Test nachweisen.

Nicht weniger als die Kultur muss verändert werden

Um die Belästigung zu stoppen, würde es häufig reichen, wenn sich Betroffene an die Ansprechpartner im Betrieb richteten, sagt Ombudsmann Dierlamm, auch wenn Aussage gegen Aussage steht: "Bei Mobbing endet der Konflikt meist an dem Tag, an dem ein Beschuldigter mit dem Vorwurf konfrontiert wird." Zwar bestritten sie den Vorfall meist, ihr Verhalten würden sie aber dennoch ändern. Es ist sehr unangenehm, von der Unternehmensleitung auf ein mögliches Fehlverhalten angesprochen zu werden.

Doch Betroffene haben viel zu verlieren: Am Arbeitsplatz wird über Einkommen, Status und Ruf entschieden. Diese Macht können Vorgesetzte bewusst oder unbewusst ausnutzen. Je größer die Abhängigkeit, desto weniger trauen sich Mitarbeiter, bei Berührungen klare Grenzen zu setzen.

Wer einen Vorfall meldet, den er nicht beweisen kann, riskiert vor Gericht eine Gegenanzeige wegen Verleumdung, im Arbeitsumfeld Gemunkel, was sich da im Hinterzimmer wohl abgespielt habe. Weil sogar Freunde oft hinterfragen, ob eine Belästigte mit einer hübschen Bluse falsche Signale gesendet und eine Mitschuld haben könnte, sagen sie lieber nichts.

Richtlinien einzuführen, Beratungsstellen einzurichten und Hinweisen nachzugehen, reicht also nicht. "Mitarbeiter, die weiterkommen wollen, orientieren sich an ihren Vorgesetzten", sagt die Organisationspsychologin Sonja Sackmann von der Universität der Bundeswehr München. Führungskräfte, die deutlich zeigten, dass sie entwürdigende Bemerkungen nicht tolerierten, könnten eine Kultur prägen, in der dieses Verhalten unwahrscheinlicher werde.

Führungskräfte haben einen großen Einfluss

Für die Führungskultur des Versicherers Allianz ist Margarete Voll verantwortlich. Die Personalleiterin ist überzeugt, dass partnerschaftliche Zusammenarbeit die beste Prävention für sexuelle Belästigung ist. Alle angehenden Führungskräfte der Versicherung müssen in Interviews und Rollenspielen beweisen, dass sie wertschätzend mit Mitarbeitern umgehen können. Dabei gehe es auch um ein Bewusstsein für spezielle Konflikte, die in der Zusammenarbeit verschiedener Ethnien und Geschlechter entstehen können. In Webinaren würden Führungskräfte für unbewusste Diskriminierung sensibilisiert. Eher subtil habe die Allianz über interne Publikationen auch darauf hingewirkt, dass Führungskräfte die Krawatte ablegen - ein Signal für mehr Offenheit. Die aktuelle Debatte aber, sagt Voll, habe gezeigt, dass noch mehr getan werden müsse: Personaler und Führungskräfte wollen demnächst Ideen austauschen.

Einen Weg sieht Psychologin Sackmann in Rollenspielen und Gesprächsgruppen, in denen Mitarbeiter sich gegenseitig zeigen und sagen, was sexuelle Belästigung für sie ist. "Die Botschaft entsteht immer beim Empfänger", sagt Sackmann. Was bewundernd gemeint ist, kann als belästigend empfunden werden. Manchmal braucht es statt Sanktionen vielleicht nur ein bisschen Nachhilfe beim Thema "Komplimente machen am Arbeitsplatz".

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